Rezension

Ein opulenter und bild-gewaltiger Roman

Die letzte Reise der Meerjungfrau - Imogen Hermes Gowar

Die letzte Reise der Meerjungfrau
von Imogen Hermes Gowar

Bewertet mit 4 Sternen

Zitat:

"Sie denken an uns, selbst wenn wir weit weg sind. Sie bilden sich ein, uns zu sehen. Sie erzählen sich Geschichten über uns. Die Geschichten handeln von Männern, die den Strand entlanglaufen und von Weitem liebliche Stimmen hören, die einen glatten weißen Rücken sehen und ungeachtet dunkler Wolken und tosender Winde die ausgestreckten Händchen ihrer Kinder und ihre eifrig strickenden Frauen vergessen, nur wegen eines Gesichts, das sie halb hinter sturmgepeitschten grünlichen Haaren erblicken. Manche werfen sich mit geblähtem Hemd ins Wasser oder waten ungeschickt durch Untiefen, stolpern mit frierenden Waden auf Steinen voll glitschigem Tang. Und manche werden nie mehr gesehen." (Seite 89)

 

Wir schreiben das Jahr 1785. Der Kaufmann Jonah Hancock erhält von seinem Kapitän eine höchst sonderbare Fracht; eine Meerjungfrau. Nach anfänglichen zögern entschließt sich Jonah die Kreatur auszustellen und so wird die tote Meerjungfrau in London schnell zur Sensation. Innerhalb kürzester Zeit steigt der Witwer Jonah Hancock in der Gesellschaft auf, sodass auch die Bordellbesitzerin Mrs. Chappell auf ihn aufmerksam wird und die Meerjungfrau für ihr Etablissement mietet. Dort trifft der zurückhaltende Hancock auf die Kurtisane Angelica und verliebt sich sofort in sie, diese fordert jedoch als Liebesbeweis eine eigene Meerjungfrau.

 

Großartig. Ein bezaubernder Roman, bunt, mitreißend und wortgewandt. Imogen Hermes Gowar strickt gekonnt eine fesselnde und schillernde Geschichte mit einem glänzenden Ensemble seltsamer und gut gezeichneter Charaktere und dem mythischen Zauber der Meerjungfrauen, dabei entführt sie den Leser in das London des 18. Jahrhunderts.

 

Lebendig und bildreich lassen einen die Worte durch die Seiten schreiten, die Umgebung, der Geruch die Emotionen sind greifbar. Schwanken von überbordender Fröhlichkeit, bis hin zu melancholischer Traurigkeit.

 

Der Schreibstil ist imposant, ergreifend und macht das Buch zu einem wahren Lesegenuss.

Zunächst wird dem geneigten Leser jedoch nicht ganz klar, wohin diese opulente und geradezu großzügig ausgeschmückte Geschichte führen soll.

Die letzte Reise der Meerjungfrau wird eine verwirrende Kreuzfahrt, mit kurzen Abstechern in Nebenschauplätze. Schnell wird einem jedoch klar, die Meerjungfrau spielt nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist sie ein Symbol für die ungesättigte Gier und dem lebenslangen Streben des Menschen, nach immer mehr und mehr.

 

Die Meerjungfrau. Betrug? Oder doch ein Wunder?... und zu welchem Preis?

 

Die Geschichte entfaltet sich allmählich und schwankt zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, zudem entpuppt sie sich als regelrechte Achterbahnfahrt der Gefühle und findet schließlich ein fulminantes Ende, nicht ohne vorher den Leser nochmal so richtig zu schocken.

 

Bei mir hallt das Buch immer noch nach. Es ist keine leichte Lektüre. Ein Buch voller Leidenschaft, tiefsitzender Ängste und gefährlicher Besessenheit. Die Nachwirkungen sind immer noch spürbar, die Geschichte macht traurig und nachdenklich und lässt einen gleichzeitig auf Wunder hoffen.

 

Ein Manko waren für mich, die nicht so ganz gelungenen Übergänge. Soll heißen; zunächst plätschert die Story vor sich hin, scheinbar ein wenig richtungslos und dann geraten die Charaktere in schwierige Situationen, aus welchen sie sich raus manövrieren müssen. Die Reihenfolge wie auf einer Checkliste abgehakt und damit für mich ein wenig zu offensichtlich konstruiert, was mich während des Lesens ein wenig gestört hat. Deshalb von mir nur vier Sterne.

 

Randnotiz: Die kursiven Kapitel aus Sicht der Meerjungfrau fand ich sehr gelungen, zudem fangen sie den mystischen Zauber spürbar ein und verleihen der Geschichte somit  eine noch tiefere Ebene.

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