Rezension

Ein Roman, der viel mehr als ein einfacher Krimi ist.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert - Joël Dicker

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
von Joël Dicker

Ein verblassender und ein untergehender Stern. 

Marcus Goldman hat geschafft, wovon unzählige Autoren träumen. Er gehört zu den  gefeierten Schriftstellern Amerikas, tingelt durch Talkshows und wird von seinen Fans und Lesern sogar auf offener Straße erkannt. Kurz: Er ist ein gefeierter Star am amerikanischen Literaturhimmel. Das überrascht kaum, denn sein Mentor ist der gefeierte Schriftsteller Harry Quebert, der mit seinem 1976 erschienenen Werk “Der Ursprung des Übels” den Roman seines Lebens schrieb und seither zu den ganz Großen der Literaturgeschichte gehört. Doch mit der Zeit verblasst der Stern von Marcus Goldman. Nur Harry Quebert hört nicht auf, an seinen Schützling zu glauben und bietet ihm wie so oft Zuflucht und Inspiration fernab der Metropolen Amerikas in seinem Haus in der Kleinstadt Aurora, New Hampshire. Doch die Idylle der Kleinstadt wird schlagartig zerstört, denn auf Harrys Grundstück wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden, das vor knapp 30 Jahren spurlos verschwunden ist. Ihr Name ist Nola Kellergan. Sie war in der Stadt nicht nur für ihre Schönheit berühmt, sondern auch für die Geheimnisse, die sie mit sich herumtrug.

Die Geheimnisse folgen dem Teenager bis in den Tod, denn mit der Leiche von Nola Kellergan wurde zugleich ein Manuskript begraben – “Der Ursprung des Übels”. Ein Leichtes also, den in die Jahre gekommenen Schriftsteller zu beschuldigen. Das ist auch die erste Reaktion der Menschen. Für sie steht fest, dass Harry Quebert der Mörder der jungen Nola Kellergan ist. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer und aus dem gefeierten Star wird schnell eine gefallene und gebrochene Persönlichkeit. Nur einer glaubt noch an dessen Unschuld – Marcus Goldman. Ob er damit jedoch richtig liegt oder seinen sentimentalen Gefühlen für seinen Mentor erliegt, vermag Joël Dicker lange Zeit nicht verraten. Zumindest beginnt mit dem Auftauchen Goldmans 30 Jahre nach dem Tod des Mädchens eine Spurensuche in der Kleinstadt Aurora, die nach und nach die perfekte Fassade der Bürger einreißt und menschliche Abgründe aufzeigt.

Ein Roman, der viel mehr als ein einfacher Krimi ist.

Wohl kein Buch hat im letzten Jahr so viel Aufmerksamkeit erregt wie Die Wahrheit über Harry Quebert von Joël Dicker. Der Roman, der in Frankreich monatelang die Bestsellerlisten beherrschte, sorgte auch hierzulande für begeisterte Leserstimmen. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an den Roman des jungen Franzosen. Nichts davon wurde erfüllt und doch wurden sie übertroffen. Zunächst einmal war ich fest davon überzeugt, die in meinen Augen für französische Autoren so typische Leichtigkeit zu finden. Was ich fand, war ein Roman, den ich tatsächlich hin und wieder zu Seite legen musste, da mir die Kost teilweise zu schwer wurde. Doch genau aus diesem Grund finde ich die Handlung derart gelungen. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist kein schnöder Krimi, in dem irgendwo eine Leiche auftaucht, jemand ermittelt und die finale Auflösung noch einmal den alles überschattenden Trumpf des Autors darstellt. Im Gegenteil – häufig werden in dieser Handlung leise Töne angesprochen. Zwischendurch stellt sich sogar die Frage, ob man tatsächlich einen Krimi in der Hand hält, denn statt psychologischer oder blutiger Spielchen präsentiert Joël Dicker seinen Lesern vielmehr die sozialen Abgründe einer amerikanischen Kleinstadt, die komplett in ihrem Spießbürgertum mit all seinen Facetten aufgeht.

“Marcus, wissen Sie, was die einzige Möglichkeit ist, um herauszufinden, wie sehr sie jemanden lieben?”
“Nein.”
“Ihn zu verlieren.”
– Seite 241–

Trotz seiner nüchternen Schreibweise entführt Joël Dicker seine Leser in zwei Erzählsträngen direkt nach Aurora – 1975 und 2008. Erschreckend, dass es in dieser Zeitspanne kaum eine Veränderung in der Kleinstadt gibt. Der Aufbau der Handlung sowie die treffende Wortwahl verhelfen beim Lesen zu einer derart bildlichen Vorstellung, wie man es selten bei einem Buch erlebt. Somit erscheinen alle Figuren trotz ihrer zwischenzeitlichen Absurdität sehr real, wodurch Joël Dicker in der Erzählung einiger Handlungsstränge durchaus das Blut in den Adern gefrieren lässt. Kaum ein anderer Autor schafft es meiner Meinung nach mit so einer unaufgeregten Schreibweise für so viel Adrenalin zu sorgen, so unkompliziert zu schreiben und gleichzeitig so eine Beklemmung beim Lesen hervorzurufen. Ich denke, der Begriff Beklemmung trifft es in diesem Fall tatsächlich ganz gut, denn Joël Dicker lässt seine Leser nicht nur mit einem Kloß im Hals zurück, sondern bringt gleichzeitig durch verschiedene menschliche Abgründe das eigene Gedankenkarussell zum Laufen, wobei Themen wie psychische Krankheiten, das bewusste Wegsehen unter Nachbarn bei Missständen, fehlendes soziales Engagement, soziale Verurteilung und nicht gelebte Träume nur einige Facetten dieses Romans sind. Wer sich nicht von dem leichten Cover täuschen lässt und beim Lesen von Krimis gerne auch auf anspruchsvolle Unterhaltung zurückgreift, wird diesen außergewöhnlichen Roman sicherlich mögen. Zumindest ist das in meinen Augen ein Roman, der den Hype tatsächlich verdient hat.