Rezension

Ein sehr gelungener, lesenswerter Roman

Auch das wird vergehen - Milena Busquets

Auch das wird vergehen
von Milena Busquets

Bewertet mit 5 Sternen

Ein langer Abschied, dessen Bilder, wenn man hinter die Kulissen blicken mag, existentielle Fragen aufwerfen. Toll geschrieben. Lesenswert.

Blanca ist 40, attraktiv, beliebt, hat zwei Kinder von zwei Ex-Ehemännern, die nach wie vor in ihrem Leben mehr oder minder präsent sind. Ihre Mutter ist vor Kurzem nach einer langen und kräftezerrenden Krankheit gestorben. Blanca nimmt ihre Familie und Freunde mit und fährt nach Cadaqués, das ehem. Fischerdörfchen am Meer, später eine Hippie- und Künstlerkolonie, zu ihrem Sommerhaus. „Für Blanca beginnt eine entrückte Zeit: Stunden auf dem Boot, Frühstück unterm blauen Himmel, Gespräche bis tief in die Nacht, Alkohol, Sex. Und es wäre alles wie immer – würde die verstorbene Mutter ihr nicht auf Schritt und Tritt begegnen und Blanca dazu zwingen, sich zu einer folgenreichen Einsicht durchzuringen. Auch das wird vergehen ist gravitätisch und leicht, melancholisch und komisch, sanft und heftig, es ist die ergreifende Geste eines langsamen Abschieds…“, so der Klappentext. Diese Zeilen beschreiben das Geschehen recht treffend.

Es ist ein langer Abschied, dessen Bilder und Szenen, wenn man hinter die Kulissen blicken mag, einige Fragen aufwerfen: Ist es evtl. ein Abschied nicht nur von der geliebten Mutter und den Menschen, der Blancas Leben maßgeblich seit Kindheit beeinflusst hat?  Ist es womöglich auch ein Abschied von sich selbst, von dem Teil, der dank und aus Trotz zur Meinung der Mutter Blanca durchs Leben getragen hat? Ist es eher so, dass die 40-Jährige nun dasteht, Großteil ihres Selbst nicht mehr da, und zu verstehen sucht, was ihr geblieben ist, und was sie damit anfangen soll? Versucht sie durch Alkohol, Sex und gelegentliche Joints (harte Drogen lehnt sie kategorisch ab) ihre innere Leere zu füllen, den Schmerz zu stillen, den Kummer kleinzuhalten? Die Mutter hatte eine starke, bestimmende Persönlichkeit.  Ist es deshalb so, dass Blanca unter Mutters Regie sich selbst hat nicht ausreichend kennenlernen können, daher weiß sie nicht so genau, wer sie eigentlich ist, was ihr im Leben wirklich wichtig wäre und was sie eigentlich erreichen will?

Milena Busquets zeigt Blanca (Nomen est Omen?) , ihre Männer, ihre Freundinnen und somit einen Teil der Gesellschaft, der, sofern etwas Geld da ist und keine akute Notwendigkeit, dies schwer verdienen zu müssen, in Drogen, Alkohol und Sex flüchtet, statt sich Ziele zu setzen und daran zu arbeiten, diese auch zu erreichen, i.e. ihr Leben stellt im Wesentlichen eine Flucht vom erfüllten und erfüllenden Leben dar. Und hier taucht die nächste Frage auf: was heißt denn Leben für diese Menschen? Insofern steckt hier ggf. indirekte Gesellschaftskritik: Menschen in der Mitte des Lebens und voller Kraft finden keine Verwendung dafür. Sie sehen, dass sie in der Gesellschaft keine Rolle spielen (können), und verschwenden ihre Zeit und ihre Kraft an Drogenkonsum oder exzessives Sporttreiben. Der Autorin ist es hoch anzurechnen, dass sie es schafft, durchs Schildern der scheinbar belanglosen Bilder, bei denen es ums gute Miteinander, Tagesfahrten mit den Kindern auf dem Boot, Freundschaften und  Liebschaften an lauen Sommerabenden am Meer beim Glas Weißwein geht, vor allem existentielle Fragen hervorzurufen.

Der Schreibstil ist einmalig: leicht und fließend, aber mit so einer Ausdrucksstärke, die alles lebendig und nah wirken lässt. Es ist, als ob Blanca eine alte Freundin wäre, die man wieder nach Jahren getroffen hat, und sie einem nun ihre Geschichte erzählt.

Philosophisch und poetisch anmutende Überlegungen, oft überraschend und an den Stellen, an denen man sie gar nicht erwartet, bereichern das Leseerlebnis. Der Roman wirkt manchmal wie ein Gedicht, das man aufgrund der Tiefe,  Intensität und Reife der Gedanken zum Leben und Tod, Trauer, Partnerschaft, Freundschaft, Sex, Liebe, auch Mutter-Tochter Liebe, Kinder, Freiheit, usw. nur paar Seiten lesen kann und eine Pause anlegen muss, um dem Ganzen mehr Raum zu geben. Die Frische der Wahrnehmung spielt hier m.E. eine große Rolle. Manchmal wirkt der Roman wie ein innerer Monolog mit der Mutter, ein Gespräch, das Blanca wieder und aufs Neue mit ihr führt und etwas von sich und den eigenen Beweggründen preisgibt, auch etwas von den Treffen mit den Freunden erzählt, die ihr die unbekannten Seiten ihrer Mutter offenbaren. Das „wie“ ist hier eindeutig das Ausschlaggebende. Es lässt sich nicht beschreiben, das sollte man lieber selbst für sich herausfinden. Die Geschichte wirkt jedenfalls authentisch und folgt ihrem eigenen Muster, wie das Leben selbst. Die humorig-ironische Seite, als guter Kontrast zum Trauer, hat mir besonders imponiert.

Einige Zitate: Blanca über ihre Bekannte: „Sie sieht glücklich und keck aus wie ein fünfjähriges Kind. Wir sehen alle jünger aus, wenn wir glücklich sind, aber Elisa schafft es in zwei Minuten von fünf auf fünftausend Jahre, fast nie befindet sie sich dazwischen, irgendwann wird sie eine alte Frau mit dem Gesicht eines schlauen Eichhörnchens sein… ‚Bei ihrem Hintern war es nur eine Fragen der Zeit, bis sie mit einem Kubaner zusammen ist‘, flüstert Sofía weiter. Das Problem, sage ich mir, ist bloß, dass sich in, oder besser über dem prächtigen kubanischen Hintern das brillante und analytische Hirn eines existentialistischen französischen Philosophen verbirgt und niemals Ruhe gibt, was ihr das Leben in wenig erschwert. Die Ärmste muss ständig die Balance zwischen dem kubanischen Hinterteil und dem französischen Philosophenkopf finden.“S. 43-44.

Ein leicht abgewandelter Satz, der Blancas Mutter beschreibt: „Eleganz ist eine geistige und keine ästhetische Angelegenheit.“S. 65.

„Wir haben alle unsere verlorenen Paradiese, in denen wir niemals gewesen sind.“S. 84.

Fazit: „Auch das wird vergehen“ ist ein sehr gelungenes, lesenswertes Stück Literatur. Ich kann das Ausmaß der Aufmerksamkeit, die der Roman hervorgerufen hat, prima nachvollziehen. „Gefühl und Intelligenz in Reinform“, so Marie Claire auf der Rückseite des Buchumschlages. Passt wunderbar.

Ich vergebe 5 von 5 möglichen Sternen und eine klare Leseempfehlung, insb. für diejenigen, die sich eine Pause von Genrewerken wünschen und mal etwas anderes lesen wollen.