Rezension

Ein sehr lesenswerter historischer Roman

Alles Licht, das wir nicht sehen
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

INHALT

Saint-Malo 1944: Marie-Laure, ein junges, blindes Mädchen, ist mit ihrem Vater, der am „Muséum National d’Histoire Naturelle“ arbeitet, aus dem besetzten Paris zu ihrem kauzigen Onkel in die Stadt am Meer geflohen. Einst hatte er ihr ein Modell der Pariser Nachbarschaft gebastelt, damit sie sich besser zurechtfinden kann. Nun ist in einem Modell Saint-Malos, der vielleicht kostbarste Schatz aus dem Museum versteckt, den auch die Nazis jagen. 
Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird wegen seiner technischen Begabung gefördert, auf eine Napola geschickt und dann in eine Wehrmachtseinheit gesteckt, die mit Peilgeräten Feindsender aufspürt, über die sich der Widerstand organisiert. Während Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird, dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem Sender, über den Etienne, Marie-Laures Onkel, die Résistance mit Daten versorgt … 
Kunstvoll und spannend, mit einer wunderschönen Sprache und einem detaillierten Wissen um die Kriegsereignisse, den Einsatz des Radios, Widerstandscodes, Jules Verne und vieles andere erzählt Anthony Doerr mit einer Reihe unvergesslicher Figuren eine Geschichte aus dem zweiten Weltkrieg, und vor allem die Geschichte von Marie-Laure und Werner, zwei Jugendlichen, deren Lebenswege sich für einen folgenreichen Augenblick kreuzen.

(Quelle C.H. Beck Verlag)

MEINE MEINUNG

Mit „Alles Licht, das wir nicht sehen“ ist dem amerikanischen Autor Anthony Doerr ein hervorragend erzählter, vielschichtig angelegter historischer Roman gelungen, für den er 2015 zu Recht den Pulitzer-Preis für Belletristik erhielt.

Sehr beeindruckend sind Doerrs anspruchsvoller, sprachgewaltiger Erzählstil und seine eindringlichen, oft poetischen Formulierungen. Trotz sehr kurzer Kapitel von bisweilen nur wenigen Seiten gelingt es Doerr unglaublich gut, eine dichte Atmosphäre und die Emotionen seiner Figuren zu vermitteln. Sehr passend ist die Erzählzeit im Präsens gewählt, die den Leser hervorragend in die Ereignisse jener Zeit eintauchen und vieles hautnah miterleben lässt.

Über eine Zeitspanne von etwa 10 Jahren erstreckt sich diese ergreifende, während des zweiten Weltkriegs angesiedelte Geschichte, die in Nazideutschland und im von den Deutschen besetzten Frankreich spielt.

Im Mittelpunkt der komplexen Geschichte, die unchronologisch, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit vielen Zeitsprüngen erzählt wird, stehen die Einzelschicksale der beiden jugendlichen Protagonisten, des Deutschen Werner und der Französin Marie-Laure, in jener grauenvollen Zeit. In zwei unterschiedlichen Handlungssträngen lässt uns der Autor in vielen berührenden Episoden an ihrem Leben Anteil nehmen und miterleben, wie sich ihre Lebenswege auf unheilvolle Weise aufeinander zu bewegen und an einem tragischen Tag im August 1944 für einen kurzen bedeutsamen Moment kreuzen – dem Tag, an dem das von Deutschen besetzte Saint-Malo von den Amerikanern fast völlig in Schutt und Asche gelegt wird.

Durch die ständigen Perspektiv- und Schauplatzwechsel und die Intensität der geschilderten Ereignisse baut sich eine unglaubliche Spannung auf, die den Leser gebannt und fast atemlos immer weiter lesen lässt.

Der dritte Handlungsstrang dreht sich um einen geheimnisvollen Diamanten, das legendäre „Meer der Flammen“, seinen ominösen Fluch und die Jagd des fanatischen deutschen Stabsfeldwebels Reinhold von Rumpel nach im Krieg verschollen Kunstgegenständen. Diese Rahmenhandlung, die eine Verbindung zu den geschickt miteinander verflochtenen Geschichten der beiden Protagonisten herstellt, bringt zusätzlich Spannung und eine sehr mystische Komponente in die Geschichte.

In einer lebendigen, abwechslungsreichen Folge von beeindruckenden Szenen beleuchtet Doerr sehr geschickt viele wichtige historische, aber auch für die Protagonisten bedeutsame Geschehnisse, die sich in Deutschland und Frankreich vor dem Krieg und während des Kriegsgeschehens abgespielt haben.

Der Autor zeichnet ein sehr vielschichtiges, authentisches Bild jener Zeit und der Auswirkungen des Kriegs auf die Menschen. So erleben wir die Flucht der Pariser Bevölkerung vor den einmarschierenden Deutschen mit, Werners Ausbildungszeit in der Napola, seine Erlebnisse bei der Jagd auf Partisanensendern an der Ostfront, die Aktivitäten der Resistance und schließlich die Bombardierung St. Malos.

Die einfühlsame, detaillierte Figurenzeichnung der vielen so unterschiedlichen Charaktere mit ihren Stärken und Schwächen ist Doerr hervorragend gelungen. Geschickt lässt er uns in den unterschiedlichen Kapiteln anhand vieler kleiner, liebevoll ausgearbeiteter Details an den Sorgen und Nöten, Träumen und Wünschen der beiden sympathischen Hauptfiguren teilhaben und vermittelt ein sehr lebendiges, tiefgründiges Bild ihrer Persönlichkeit. Sehr glaubwürdig und anschaulich hat er das Gefühlsleben und die charakterliche Weiterentwicklung der beiden während der sich zunehmend eskalierenden Geschehnisse herausgearbeitet.

Auf der einen Seite lernen wird den jungen Deutschen Werner kennen, der mit seiner jüngeren Schwester Jutta in einem Waisenhaus im Kohlenpott groß wird und der durch seine herausragende technische Begabung von den Nazis die Chance erhält, in einer speziellen nationalsozialistischen Erziehungsanstalt, einer sogenannten Napola, zu einem Ingenieur für Radio- und Funktechnik ausgebildet zu werden. So wird ihm die Nazi-Ideologie eingetrichtert, er wird wie selbstverständlich Teil des nationalsozialistischen Systems und beginnt als Spezialist in besetzten Gebieten Partisanensender aufspüren und liquidieren. Sehr eindringlich und berührend wird dargestellt, wie sich bei Werner erst allmählich neben blindem Gehorsam ein Gewissen zu regen beginnt, ihm die Augen geöffnet werden und er die menschenverachtenden Machenschaften der Nazis und Zeuge vielen grauenvollen Taten zu hinterfragen beginnt.

Auf der anderen Seite erleben wir die blinde Marie-Laure aus großbürgerlichem Hause, die mit ihrem Vater zu Fuß vor den einmarschierenden Deutschen aus Paris zu ihren Verwandten ins bretonischen Küstenstädtchen Saint-Malo fliehen muss. Ein Geheimauftrag des Vaters bringt beide in große Gefahr, denn im Gepäck führen sie einen bedeutsamen Gegenstand mit sich, der nicht in die Hände des Feindes gelangen darf. Sehr berührend ist ihre enge, fürsorgliche Beziehung beschrieben. Bewundernswert ist Marie-Laures Fähigkeit, sich ihre Welt wegen ihrer Sehbehinderung zu erfühlen und sich den täglichen Herausforderungen trotz aller Widrigkeiten mutig und voller Zuversicht zu stellen. Vor allem die Darstellung ihrer Empfindungen und „sinnlichen“ Wahrnehmungen ist sehr faszinierend und plastisch ausgearbeitet.

Zum gelungenen Abschluss des Romans streift die Geschichte dann nach Kriegsende zwei weitere Zeitepochen, in denen die Schicksale einiger Figuren nochmals aufgegriffen werden und ihr Bild perfekt abrundet wird.

FAZIT

Ein hervorragend erzählter, vielschichtiger und fesselnder historischer Roman, der vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielt und mich sehr überzeugen konnte.

Sehr lesenswert!