Rezension

Ein Thriller mit erstaunlichem Tiefgang

Heartware - Jenny-Mai Nuyen

Heartware
von Jenny-Mai Nuyen

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Thriller "Heartware" von Jenny-Mai Nuyen ist nicht nur eine atemberaubend spannende Suche eines jungen Mannes nach seiner Jugendliebe, sondern eine philosophisch und psychologisch fundierte Frage danach, was es heißt, Mensch zu sein. Während im Hintergrund abstrakte Mächte, von denen man bis zum Schluss nicht weiß, wer gut und wer böse ist, die philosophische Seite der Frage aushandeln, bleibt der Fokus auf Adam Eli und seiner geliebten Willenya, um in die Tiefe der Psyche hinabzusteigen. Heraus kommt ein Roman, der sehr viel richtig mach und am Ende nur ein wenig zu viele Frage unbeantwortet lässt, um rundum gelungen zu sein.

Bevor ich mit meiner Rezension beginne, warne ich vor leichten Spoilern, die der Text beinhalten wird. Ich werde nicht über den Fortgang der Handlung sprechen, aber zentrale Thematiken, die erst später im Buch erörtert werden, aufgreifen. Wer also wirklich gar nichts über diesen Roman wissen möchte, sollte hier nicht weiterlesen. Alle anderen lade ich dazu ein, sich eine Tasse Kaffee zu schnappen, es sich in einem Sessel gemütlich zu machen und die höchste Aufmerksamkeitsstufe zu aktivieren - wir haben viel zu besprechen, denn dieser Thriller ist keine leichte Kost. Entsprechend schreibe ich auch keine klassische Rezension zu diesem Buch, sondern eher eine Besprechung mit Diskussion.

Die Definition der Freiheit

Wir sind alle Geschöpfe Gottes, sagt die Philosophin Catharine Macaulay (02.04.1731 - 22.06.1791). Als er uns geschaffen hat, hat Gott uns allen die Vernunft geschenkt. Mit Hilfe dieser Vernunft, so ist es Gottes Wille, sind wir in der Lage, gut und böse zu unterscheiden und uns für das Gute zu entscheiden. Als Anhängerin des Postmillenialism geht Macaulay davon aus, dass der einzelne Mensch und die Menschheit als Ganze stetig tugendhafter wird, bis schließlich alle Menschen tugendhaft sind und ein tausendjähriges Reich Gottes voller Glück auf uns wartet, eingeläutet vom zweiten Erscheinen von Christus. Sie hielt die Französische Revolution für den Beginn dieses tausendjährigen Reiches und verstarb, ehe sie die grausame Wendung miterleben konnte. Zentraler Kern ihrer Philosophie ist, dass Gott uns den freien Willen gegeben hat, so dass wir uns zwischen gut und böse entscheiden können. Dass es das Böse gibt, liegt daran, dass wir nur im Kampf gegen das Böse zu wahrer Tugendhaftigkeit gelangen können. Das Gute wiederum ist der Wille Gottes. Ihn zu erkennen bedeutet, Freiheit zu erfahren. Der wahrhaft freie Mensch wird sich also immer für das Gute entscheiden. Wer sich für das Böse entscheidet, ist nicht frei. In Macaulays Lehre ist es dem vernünftigen Menschen unmöglich, sich nicht für das Gute zu entscheiden. Und weil das so ist, ist es unaufhaltsam, dass wir den Zustand weltweiter, endgültiger Glückseligkeit erreichen werden.

Warum erzähle ich euch das? Jenny-Mai Nuyen hat ihren Roman in drei Teile aufgeteilt und der letzte ist hochgradig philosophisch. Schon vorher begegnen wir sozialistischen Gedanken und es wird schnell klar, dass es hier irgendwie um Größeres geht. Doch erst im letzten Teil wird klar, wie groß dieses Größere eigentlich ist. Durch das ganze Buch ziehen sich Andeutungen, wie mächtig jene sind, die den Informations- und Technikvorsprung haben. Der bereits im Klappentext erwähnte Internettycoon Balthus bspw. hat ein wahrhaft grauenerregendes Programm geschrieben, welches auch von der Hauptperson Adam Eli genutzt wird, um nicht ganz legale Recherchen anzustellen. Wer Programme schreiben, nutzen und verkaufen kann, hat die Macht. Im Nachteil sind wie immer jene, denen die Bildung und das Geld dazu fehlt. Die Welt ist ungerecht. Warum ist sie ungerecht? Weil die Menschen ihren negativen Trieben nachgehen und andere nicht gleichberechtigt beteiligen. Am Ende werden wir mit der These konfrontiert, dass es unmenschlich ist, kein Mitleid mit seinen Mitmenschen zu haben (eine These, die auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hat) und dass wahre Menschlichkeit darin besteht, sich, wird man vor die Wahl gestellt, für den guten Teil in sich zu entscheiden. So könnten alle sich demokratisch an Wohlstand und Wissen beteiligen. Und im Hintergrund würde ein Gott agieren, der darauf achtet, dass alle ihre Freiheit genießen können - während er gleichzeitig dafür sorgt, dass jeder Mensch motiviert ist, sich für seine Menschlichkeit, für das Gute zu entscheiden.

Freiheit wird auch hier definiert darüber, sich für das Gute, für das Richtige, für die so ausgelegte Menschlichkeit zu entscheiden. Ein Utopia, in dem alle glücklich sein können, weil alle dazu motiviert werden, sich für das Gute zu entscheiden. Na, hast du auch schon eine Gänsehaut?

Das Spannende an diesem Thriller ist, dass Nuyen uns diese Zukunftsvision präsentiert, ohne selbst klar Stellung zu beziehen. Empfindet die Autorin dies als Dystopie oder Utopie? Wie steht eigentlich die Hauptperson Adam Eli zu dieser Aussicht? Und die anderen Charaktere, die wir kennenlernen? Wir bleiben im Ungewissen. Klar ist nur, dass im Hintergrund Mächte am Wirken sind, die genau dieses Utopia anstreben - und andere, die alles, wirklich alles tun würden, um so eine Zukunft zu verhindern. Welche Seite gewinnt? Wer weiß.

Psychologische Grausamkeiten

So viel also zum philosophischen Grundgerüst. Verpackt wird das alles in einen gut funktionierenden Thriller, der auch auf psychologischer Ebene unter die Haut geht. Jede Figur, die wir näher kennenlernen, schleppt ein schweres Bündel mit sich rum. Adam Eli krankt an seiner Liebe zu Willenya, die er nur Will nennt. Er überlebt von Tag zu Tag, doch seit er sie verloren hat, hat er aufgehört zu leben. Entsprechend braucht es nicht viel, damit Marigny, die zweite Hauptperson, ihn für die Suche nach Will einspannen kann. Er hat ein offensichtlich gestörtes Verhältnis zu seinem Körper und zu anderen Menschen. Ebenso wie Marigny, die frühe Kränkungen erfahren hat und sich heute zwar ihrer weiblichen Macht über Männer bewusst ist und diese einsetzt, trotzdem aber innerlich voller Zweifel bleibt. Viel Handlung erleben wir aus der Sicht dieser beiden. Besonders erstaunlich und ein offensichtliches Zeichen für Nuyens Talent ist dabei, dass ich Marigny Teilen stets Mitleid mit ihr hatte und sie sympathisch fand, während ich sie in Elis Abschnitten und aus seinen Augen anstrengend, ja beinahe abstoßend fand. Die beiden entwickeln schnell eine sehr merkwürdige Beziehung, die getränkt ist von Misstrauen und Anziehung, wobei letzteres insbesondere Eli zu schaffen macht. Denn er will treu zu Will stehen.

Auch andere Personen haben ihre Momente, selbst wenn es nur bezahlte Mörder im Auftrag der Bösen sind. Alle sind zutiefst menschlich, alle sind auf ihre Art so eigen, wie man es nur werden kann, wenn man das eine oder andere Trauma mit sich herumschleppt.

Und dann ist da Will, die wir fast nur aus der Perspektive von anderen erleben. Je mehr man über Will lernt, je näher wir sie kennenlernen, umso weniger wird sie als Person greifbar. Sie hatte eine furchtbare Kindheit, unvorstellbar für Leser wie mich, doch als junge Erwachsene widerfährt ihr beinahe noch Schlimmeres. Die Liebe von Adam Eli wirkt wie ein Weichzeichner, man will sie mögen, doch immer wieder steht man als Leser vor Will und fragt sich: Wer ist sie wirklich? Was will sie wirklich? Lügt sie? Kann sie überhaupt noch die Wahrheit sagen? Weiß sie eigentlich noch, was die Realität ist? Ist sie Opfer oder Täter? Kann man das überhaupt klar trennen?

Wo immer wir in diesem Thriller Menschen begegnen, begegnen wir auch Sexualität. Da ist Marigny, die schamlos flirtet, um an ihr Ziel zu kommen. Da ist der böse Schatten, der Adam und Marigny folgt, der in sexistischen Begriffen von seiner Auftraggeberin spricht und generell eine stark sexualisierte Sicht auf die Welt zu haben scheint. Da sind die Wissenschaftler, die auch vor Kinderpornografie nicht zurückschrecken, solange es der Sache dient. Und natürlich sind da Adam Eli und Willenya, die trotz aller Umstände die Finger nicht voneinander lassen können. Gibt es in diesem Roman eigentlich irgendeine Figur, die nicht in irgendeiner Form ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper hat? Ich glaube fast nicht.

Es ist spannend zu sehen, wie Nuyen hier einen Kommentar zum Sozialismus mit Erörterungen über sexuelle Gewalt verknüpft und daraus einen Tech-Thriller webt. Besonders spannend wird das, wenn man es vor dem Hintergrund politikwissenschaftlicher Konzepte wie der Biopolitik sieht. Wir kennen Sozialismus nur in Form von Diktatur und Diktatur ist dann besonders leicht zu stabilisieren, wenn der Staat Macht über den Körper hat, sowohl über den politischen als auch über den menschlichen Körper. Nichts richtet so viel Schaden in der Seele der Menschen an wie die grausame Schattenseite der Sexualität. Dabei muss es gar nicht um den Geschlechtsakt als solchen gehen, wie wir auch in diesem Buch eindrücklich erfahren. Es ist eine düstere Welt, in die uns Nuyen wirft, wo selbst die zarteste, unschuldigste, aufrichtigste Liebe machtlos erscheint gegen die Grausamkeit der Umgebung.

Ein paar kritische Gedanken

Um zum Ausgangspunkt meiner Rezension zurückzukommen: Schon Macaulay hat in meiner Auffassung die Menschen falsch definiert und das geschieht auf exakt die gleiche Art und Weise im Buch. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Nuyen selbst die Auffassung nicht teilt, doch ich kann nur mit dem philosophischen Konzept ringen, welches mir präsentiert wurde, also nehme ich dies als Gegner: Ja, wir Menschen müssen uns tagtäglich mit Entscheidungen auseinandersetzen, die im Kern auf gut oder böse hinauslaufen. Ja, es wäre wünschenswert, wenn immer die Entscheidung für das Gute fallen würde. Aber: So sind wir Menschen nicht gestrickt. Das Böse gehört zu uns. Ganz essentiell zu uns. Wir sind triebhafte Menschen, von Emotionen, Hormonen, von chemischen Reaktionen gesteuert. Wir haben unsere Vernunft und können lernen, unsere negativen Gefühle zu kontrollieren. Doch wenn wir diese negativen Gefühle, die Triebe, die uns unmenschlich erscheinen lassen, unterdrücken, werden wir krank. Neid, Eifersucht, Geltungsdrang, der Wunsch, sich von anderen abzuheben, all das ist ein natürlicher Teil von uns. Weder ein christlicher Gott noch ein moderner Gott (welche Form auch immer er annehmen würde) haben das Recht, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen. Was im dritten Teil in Nuyens Thriller entworfen wird, wäre für mich eine Dystopie.

Zum Abschluss will ich doch noch einige klassische Rezensions-Bemerkungen anbringen: Der Schreibstil ist wundervoll, zugleich eindringlich, empathisch und an passenden Stellen angemessen technisch. Die Figuren sind authentisch und menschlich und klar voneinander zu unterscheiden. Die Handlung bleibt bis zum Schluss nachvollziehbar, selbst wenn man im Dunkeln tappt, es geschieht viel, aber nie zu viel. Trotzdem bin ich am Ende mit ein paar Fragen zu viel zurückgeblieben. Ich muss nicht jede Charaktermotivation auf dem Silbertablett serviert bekommen, doch wenn ich am Ende bei jedem einzelnen Charakter zweifle, ob ich seine Motivation tatsächlich kenne und verstanden habe, bin ich unzufrieden. Die Motivation aller unwichtigen Personen ist so schlicht wie einsichtig. Die Motivation aller wichtigen Personen ist so komplex wie undurchsichtig. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Autorin hier ein wenig offener gezeigt hätte.

FAZIT:

Der Thriller "Heartware" von Jenny-Mai Nuyen ist nicht nur eine atemberaubend spannende Suche eines jungen Mannes nach seiner Jugendliebe, sondern eine philosophisch und psychologisch fundierte Frage danach, was es heißt, Mensch zu sein. Während im Hintergrund abstrakte Mächte, von denen man bis zum Schluss nicht weiß, wer gut und wer böse ist, die philosophische Seite der Frage aushandeln, bleibt der Fokus auf Adam Eli und seiner geliebten Willenya, um in die Tiefe der Psyche hinabzusteigen. Heraus kommt ein Roman, der sehr viel richtig mach und am Ende nur ein wenig zu viele Frage unbeantwortet lässt, um rundum gelungen zu sein. Ich spreche eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aus, denn das Buch ist gleichermaßen lehrreich wie unterhaltsam.