Rezension

Ein toller Roman mit Tiefgang.

Sieh mich an - Mareike Krügel

Sieh mich an
von Mareike Krügel

Bewertet mit 5 Sternen

Vordergründig ist es eine bewegende, humorvolle Geschichte der Mutter zweier Kinder, die vor Kurzem einen Knoten in ihrer Brust entdeckt hat und nun über ihr Leben nachdenkt. Das Recht sich selbst zu sein ist ein großes Thema in diesem Roman, das aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde.

Den Roman habe ich sehr gerne gelesen. Er hat mir viele erfüllte Lesestunden gebracht. Habe den extra langsam angegangen, um länger davon zu haben. Ein schönes Stück Literatur mit Tiefgang, das ich gerne weiterempfehle.

Der Titel hat mich angesprochen. „Sieh mich an“ in Kombination mit dem Fuchs auf dem Cover haben das Buch zu must-read gemacht.

Vordergründig ist es eine bewegende, humorvolle Geschichte der Mutter zweier Kinder, die vor Kurzem einen Knoten in ihrer Brust entdeckt hat und nun über ihr Leben nachdenkt. Sie führt klar vor Augen, was ist, was war, malt sich aus, wie das Leben ihrer Kinder verlaufen wird. Manchmal wird sie ironisch-sarkastisch, aber das passt zu ihrem messerschaften Verstand und zu dem, was sie sieht.

Das Recht sich selbst zu sein ist ein großes Thema in diesem Roman, das aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde.

Es war nur ein Tag mit Katharina, aber mir kam vor, dass ich mit ihr ihr ganzes knapp vierzigjähriges Leben verbracht habe. Man lacht und weint mit ihr zusammen, wundert sich ein wenig über ihr chaotisches Familienleben. So ganz viel Aktion ist nicht da, muss auch nicht, denn das, was den Roman ausmacht, das sind Katharinas Gedanken, denn diese halten der Gesellschaft Spiegel vor Augen. Kritisch, gekonnt und authentisch präsentiert.

Nicht von der Hand zu weisen sind die Dinge, die Katharina Sorgen machen. Ihr Mann Costas ist Architekt, fand aber keine Arbeit mehr vor Ort und musste einen Brotjob, die beiden nennen den Hurenjob, in einem größeren Architektenbüro in Berlin annehmen. Selbst am Wochenende kann er nicht heim, da er auf einem Empfang erwartet wurde, auf dem er bloß als Staffage dienen soll. In der letzten Zeit streiten sie sich oft, wenn er mal da ist, entfremden sich immer weiter. „Im Übrigen ist Treue überbewertet. Sie ist ein nicht zu erreichendes Ideal, das an allen Ecken und Enden verraten wird. Wer auf Treue hofft, kann nur enttäuscht werden. Costas und ich jedenfalls kommen inzwischen schon länger ohne sie aus. Er ist sich selbst längst untreu geworden, in dem er den Hurenjob in Berlin angenommen hat, er ist mir untreu geworden, indem er mir nicht erzählt, was in ihm vorgeht, obwohl dies, und nur dies in all der Zeit die Basis unserer Beziehung war, die stumme Übereinkunft, einander niemals auszuschließen... Im Grunde genommen haben wir in diesem letzten Jahr beiden nur im Streit Sätze gefunden, die wahr sind. Wir haben nur im Zorn durchblicken lassen, wer wir wirklich sind.“

Es ist aber auch nicht so, dass Costas zumindest finanziell groß gewinnt.  Die Familie lebt mehr oder minder von Hand zu Mund, da sein Gehalt nur für das Notwendigste reicht. Wohnen geht nur im alten Häuschen von Costas Eltern, das er während seiner Arbeitslosigkeit ein wenig aufgehübscht hat.

Katharinas Kinder hätten nicht unterschiedlicher sein können. Alex ist sechzehn, gut aussehend und pflegeleicht, hat eine Barbie-ähnliche Freundin und will Musicaldarsteller werden. Die Tochter Helli ist zehn, hat ADHS, und hält mit ihren haarsträubenden Aktionen ihre Mutter ganz schön auf Trab. „Sie war ein dickes, lautes Knäuel Leben, und das erfüllte mich mit großer Freude. Diese Gefühlsmischung begleitet unser Verhältnis bis heute: Hilflosigkeit, Unmut, eine Unmöglichkeit, den Anlass ihres Zorns nachzuvollziehen, und eine merkwürdige Bewunderung für die Beharrlichkeit, mit der sie an ihrem Recht festhält, sie selbst zu sein.“

Aber ob everybody‘s darling Alex oder herrlich eigensinnige und unangepasste Helli, sieht Katharina für die beiden keine rosige Zukunft, denn das Recht, so zu sein, wie man ist, ist etwas, was diese Gesellschaft mit aller Kraft zu eliminieren versucht. „Kinder, die nicht ins Schema passen, werden therapiert und passend gemacht oder für untauglich erklärt. Anstatt dass die Umgebung sich so verändert, dass diese Kinder sein können, wie sie sind. Es wäre doch ebenso denkbar, ein passendes Lernumfeld für Helena zu schaffen, aber nein, das kostet viel Geld und macht zu viel Mühe, und überhaupt, wo kämen wir denn da hin.“

Katharina gefällt diese Smartphone-Affinität ihrer Tochter nicht. „Sie schauen nicht aus dem Fenster. Sie verpassen den Reif und die bestäubten Acherfurchen, die vereisten Gräben und die tief stehende Wintersonne, die wie hinter Milchglas erscheint.“ Hellis Freundin, die mit ihr am Gerät klebt, hat ähnliches durchgemacht. Obwohl hochbegabt und nett, wurde sie in der Schule in die Schublade „schwierige soziale Verhältnisse“ gesteckt, wobei sie Tochter zweier vollbeschäftigter Akademiker mit vier Kindern ist. Sie hat sich in der Schulblade bequem gemacht und ist in der sechsten Klasse sitzen geblieben. Niemand will sie dort herausholen.

Das Hauptthema wird auch metaphorisch umspielt: „All die eifrigen Büschen, Bäume und Sträucher, die im Frühling wieder wild drauflostreiben werden, unermüdlich, Jahr für Jahr, obwohl sie regelmäßig von einer langsam fahrenden Maschine wieder abrasiert werden. Hier darf niemand wachsen, wie er will. Und doch gibt es wenige Landschaften, die eine ähnlich beruhigende Wirkung auf die menschliche Seele haben wie die schleswig-holsteinische Knickwelt.“

Man kann noch viele Seiten über diesen Roman füllen, aber es ist besser, wenn man ihn selbst liest und zu eigener Meinung gelangt. Es ist ein Roman, dem ich einen bedeutenden Literaturpreis vom ganzen Herzen gönne. Auch weil er ein akutes Thema beleuchtet, das nicht oft zur Sprache kommt.

Hellis wilde Aktionen kamen mir tw. etwas zu dick aufgetragen vor, aber sie spiegeln sich wunderbar in Katharinas Verhalten, insb. in ihrem Auftritt am Ende, der den Titel „Sieh mich an“ effektvoll zur Geltung bringt.

Fazit: Ein toller Roman mit Tiefgang über das Leben in diesem Land, zu dieser Zeit, unter den geschilderten Lebensverhältnissen einer Familie aus unterer Mittelschicht, der zum Nachdenken über viele Themen anregt, u.a. über eigenes Leben und über die Zukunft insg. In wunderschöner, poetischer, lebendiger Sprache verfasst, ist der Roman von Mareike Krügel Lesegenuss, wie ich es mir gewünscht habe. Bitte mehr davon. Fünf wohl verdiente Sterne.