Rezension

Ein tragischer Baron von Münchhausen...

Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte - Michael Hugentobler

Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte
von Michael Hugentobler

Bewertet mit 2.5 Sternen

Geboren 1849 in einem winzigen Bergdorf in der Schweiz, erfuhr Hans Roth von klein auf nur die Abneigung seiner Mutter. Sein Vater, ein Säufer, fuhr sich bald nach seiner Geburt mit der Flasche in der Hand zu Tode, und Hans, kleinwüchsig wie er war, wurde nach der Wiederheirat seiner Mutter in den Stall verbannt. Derart ungeliebt, empfand Hans es als einen Akt der Befreiung, als er mit 13 Jahren beschloss, einfach wegzugehen.

Damit beginnt das außergewöhnliche Abenteuer des armen Bauernjungen, der sich fortan Louis de Montesanto nennt und jede Gelegenheit nutzt, die sich ihm bietet. Der Weg ergibt sich dabei stets zufällig, abhängig von den Begegnungen und Empfehlungen, die sein Leben kreuzen. Er reist mit einer Schauspielerin nach Paris, wird in London zum Butler und landet schließlich mit einem Gouverneur in Australien. Jede Tätigkeit wird ihm rasch langweilig, so dass es ihn immer weiter zieht und er schießlich auch bei den Aborigines landet. Dort verliebt er sich, muss dann aber fliehen, gründet danach in Sydney eine Familie und fährt schießlich zufällig nach London, wo ihn die Presse mit offenen Armen empfängt.

Zig Zeitungsartikel erscheinen in der Folge mit den Abenteuern des Louis de Montesanto, vieles dabei von diesem noch hinzugedichtet, bis ein solches Flechtwerk an Fiktion und Wahrheit entsteht, dass Louis womöglich selbst nicht mehr weiß, was stimmt und was nicht. Auch das Buch, das nun herausgegeben wird und von dem so erstaunlichen Leben des Freigeistes und Hochstaplers erzählt, bedient sich dieser Mischung aus Realität und Dichtung. Doch wie er schon zuvor angemerkt hat:

"Das Konzept der Wahrheit schien dabei zweitrangig zu sein, die Banalität der Wirklichkeit vermischte sich mit der Phantasie..." (S. 70)

Was ist dieses Buch nun überhaupt? Ein Roman? Nicht wirklich. Ein Reisebericht? Passt auch nicht. Eine Biografie? Wohl kaum. Michael Hugentobler bezeichnete es selbst in 'Autoren im Gespräch' (bei Whatchareadin) als historischen Roman mit einem wahren Kern und viel Fiktion. Ein wenig fühle ich mich hier an eine 'Matrjoschka' erinnert - hier greifen Fiktion und Realität auf allen Ebenen ineinander, wodurch diese irgendwie auch miteinander verschmelzen. Louis de Montesanto hat ein wahres Vorbild, nämlich den Schweizer Entdecker und Abenteurer Louis de Rougemont (1847 bis 1921). Liest man dessen Lebensbeschreibung, so stellt man rasch fest, dass sich viele Eckdaten auch in dem Roman wiederfinden. Aber hier möchte ich den Autor selbst zu Wort kommen lassen ('Autoren im Gespräch'):

"Ich glaube nicht, dass ich mich allzu sehr an die Wahrheit halten muss, denn das ist ja gerade das Schöne an einem Roman. Somit haben viele Personen in der Wirklichkeit existiert, etwa die Schauspielerin, der Bankier, der Gouverneur. Ihre Charaktere habe ich oft verändert und sie verhalten sich jetzt im Buch unter Umständen ganz anders als sie dies im echten Leben taten. Das alles ist natürlich auch ein Spiel mit der Illusion: Wie viele Details braucht ein Leser, um zu glauben, etwas sei wahr, auch wenn es allenfalls erfunden ist."

Also ist das ganze ein Schelmenstück? Vielleicht. Ein neuer Baron von Münchhausen? Mag sein, aber dann ein tragischer. Denn der abenteuerlustige und freiheitsliebende Exzentriker, der sich nie wirklich bindet und Menschen nur dazu benutzt um seine Bedürfnisse zu befriedigen, der zeitweise Anzeichen eines Psychopathen aufweist und sich am Ende zweimal neu erfunden haben wird, dieser Hans oder Louis oder wer auch immer wird letztlich als Hochstapler entlarvt und fällt dann tief. Sympathisch muss ein Charakter in einem Buch nicht sein, damit er für mich interessant ist. Aber greifbar muss er sein - und das war hier leider nicht der Fall. Distanziert beschreibend erfährt der Leser im Stile eines nüchternen Berichtes von den Geschehnissen, allenfalls verwundert, gelegentlich vielleicht auch abgestoßen vom Verhalten des  Hauptcharakters. Aber viel zu selten erhält man auch nur eine Ahnung von dem Gefühlsleben oder den Gedanken von Louis, und das hätte es gebraucht, damit mich die Erzählung packt.

"Wenn er tief in sich nach Schönheit forschte, erstrahlte dort Louis, der große Louis, in Jahren der Vorbereitung geformt, Tag für Tag zur Perfektion gefeilt und geschliffen und auf Hochglanz poliert. Louis war ein Kunstwerk, in sich vollkommen, er war sozusagen aus dem Universum herausgekraxelt, hatte sich aus dem Nichts materialisiert, um in der realen Welt Form anzunehmen (...) Aber nun, ausgerechnet jetzt, begann aus der Ferne die Stimme von Hans Roth zu klagen: Dies alles sei doch letztlich ein großer Fehler gewesen. Ein unterträglicher Widerling und erstklassiger Mistkerl sei dieser Louis, ein Untergang mit Bart und Haaren." (S. 147 f.)

Die Beschreibung des Buches und die überaus gelungene und liebevolle Gestaltung  - ein hochwertiges Hardcover mit schlichtem aber passendem Schutzumschlag, innen zeichnerische Darstellungen vieler Szenen bei den Aborigines, der Kapitelanfang jeweils mit einem Großbuchstaben eingeleitet, auf dem derselbe Herr sitzt wie auf der Schildkröte des Schutzumschlags - haben mich sehr neugierig auf das Buch werden lassen. Doch die Lektüre selbst konnte mich leider zu keiner Zeit begeistern. Der Hauptcharakter blieb mir fremd, seine Handlungsweisen ebenso, und selbst als Schelmenstück war es mir zu sachlich und distanziert geschrieben. 'Episoden aus dem Leben eines Hochstaplers' habe ich an einer Stelle notiert - und mir scheint, dies kommt dem Ganzen am nächsten.

Schilderungen eines Freigeistes, der letztlich über die Schattenseiten der Unabhängigkeit stolpert. Für mich ein distanziertes Leseerlebnis, von dem ich mir mehr versprochen hatte...

© Parden