Rezension

Ein trauriger, poetisch geschriebener Roman über die demente Anna

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm - Selja Ahava

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
von Selja Ahava

Bewertet mit 5 Sternen

"Anna verlor Sachen, Stunden und Wörter." (89) - "Mein Gedächtnis funktioniert nicht mehr … Früher musste ich nach ein, zwei Wörtern suchen. Heute kommen mir ganze Gedanken abhanden. Aber ich habe Erinnerungen." (11)

Und in diesen Erinnerungen geht es weniger um den Titel gebenden Wal, der sich tatsächlich mal in die Themse verirrt hatte, sondern um ihre große Liebe Antti, der bei einem Verkehrsunfall starb, und um den Neuanfang in London, wo sie den jüngeren Thomas kennenlernte.

Nach und nach erfahren wir von ihrem früheren Leben, aber so verworren und ungeordnet, wie es wohl tatsächlich in Annas Gehirn vor sich geht. Darauf muss man sich als Leser einlassen können. Ich gestehe, ich habe das Buch nach ca. einem Viertel beiseite gelegt, habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Bereut habe ich es nicht, aber es ist kein Buch, das fröhlich macht. Außerdem gibt es ganze Passagen, wo man als Leser nicht weiß, ob es tatsächlich so passiert ist oder ob Anna es sich so zusammenreimt.

"Manchmal stiegen Teilchen der Erinnerung vom Krankenbett in die Luft auf, fingen an zu tanzen und gerieten kreuz und quer durcheinander." (13)

Was mir gut gefallen hat, ist nicht nur die poetische unverbrauchte Sprache der finnischen Autorin (im Deutschen gelungen durch die gute Übersetzung), sondern auch Annas Umgang mit Sprache. Immer schon stellte sie Listen zusammen, beschrieb so ihr Häuschen auf einer Insel. Dabei versuchte sie, Ungenaues zu vermeiden, vor allem "unnötige Schilderungen, undeutliche Formulierungen und Meinungsadjektive wie schön, hässlich, unauffällig. - Statt 'schadhaftes blaues Handtuch' sagte sie lieber 'blaues Handtuch mit drei Löchern'. "

Dieser skizzenhafte Umgang mit Sprache gefällt mir. Er ist für Tagebücher oder Reisenotizen geeignet.

"Später stellte Anna fest, dass das Aufschreiben der Listen eine gute Methode war, innezuhalten und sich zu sammeln."

Dieses Buch ist traurig-melancholisch, aber so mancher wird in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit dementen Personen zu tun haben oder zu tun bekommen. Da ist es nicht schlecht, sich ein wenig in diese Welt einfühlen zu können. Das – so finde ich – ist der Autorin nicht nur inhaltlich gut gelungen, sondern auch in einer poetischen bildhaften Sprache.