Rezension

Ein vielversprechender Reihenauftakt

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge - Mary E. Pearson

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge
von Mary E. Pearson

Inhalt:
Lia ist entsetzt. Als erste Tochter von Morrighan soll sie mit einem Prinzen verheiratet werden, den sie zuvor noch nicht einmal in Augenschein genommen hat. Eine Zweckheirat, um die Macht ihrer Familie und des Königreiches zu erweitern. Sie möchte nicht mit einem hässlichen, alten Mann vermählt werden. Daher packt sie kurz vor der Abreise zu den Feierlichkeiten ihre Sachen, besteigt noch im Hochzeitsgewand eines der Pferde aus dem Stall und flüchtet gemeinsam mit ihrer treuen Begleiterin und Freundin Pauline in das Nachbarland Terravin.
Hier möchte sie ein neues Leben in Freiheit beginnen. Wie ein ganz normaler Bürger, ohne die Privilegien, die eine Prinzessin üblicherweise genießt.
Doch der Prinz hat längst von Lias Flucht gehört. Er reagiert weniger zornig als vielmehr amüsiert und neugierig. So macht er sich auf, um der Zukünftigen die Leviten zu lesen. Auch ein weiterer Mann begibt sich auf die Suche nach Lia, doch er nimmt die lange Reise aus einem ganz anderen Grund auf sich: Er hat einen Auftrag und zwar den, die Prinzessin zu töten.

Die Welt:
Die Autorin eröffnet dem Leser eine zwar völlig fremde, doch letztlich auch beeindruckende Welt. Es gibt hier die verfeindeten Königreiche Morrighan und Dalbreck, die jedoch bereit sind, eine zaghafte Allianz zu schmieden, um sich gegen ein weiteres Reich, Venda, zu schützen. Venda wird im Gegensatz zu den Nachbarländern nicht von einem König sondern von einem Komizar angeführt. Die Vendaner lassen niemanden überleben, wenn sie in den Krieg ziehen. Sie kennen keine Gnade. Sie sind als Barbarenvolk verschrien.
Es heißt, dass die erste Tochter eines Königreichs stets eine Gabe in sich trägt. Von Lia wird erwartet, dass sie die Zukunft deuten und eine Gefahr bereits aus weiter Ferne erkennen kann.
Von gefährlichen Waldlandschaften über Wüstenregionen und verschlafenen Dörfchen findet sich in dieser Welt alles wieder. Hier stößt man auf gefährliche Tiere wie zum Beispiel Tiger. Man begegnet Vagabunden auf der Straße.

Schreibstil:
Mary E. Pearson führt ihren Roman in einer sehr ruhigen und gemächlichen Tonlage voran. Ihr gelingt es ihre Welt so ausschmücken, dass der Leser bald Teil einer großen bildgewaltigen Reise wird.
Gemeinsam mit der Prinzessin Lia flieht man hier aus dem eigenen Königreich vor der geplanten Vermählung. Lia ist ein sehr starker und rebellischer Charakter. Sie geht ihren eigenen Weg und spricht frei von der Seele. Ihre Last eine erste Tochter zu sein, die mit einer Gabe, die sich bald entwickeln soll, beschenkt wurde, wiegt schwer. Denn Lia merkt bald, dass sich diese Gabe, von der alle sprechen, bei ihr nicht eingestellt hat. Doch gerade diese Fähigkeit ist es, die ihren Wert in den Augen der anderen ausmacht.
Auf der Reise nach Terravin gemeinsam mit ihrer Freundin Pauline fühlt Lia erstmals seit vielen Jahren wieder ein Gefühl von Freiheit. Ihr bereiten die Gefahren, die in den nahen Wäldern lauern kaum Sorge. Auch hat Lia keine Angst davor sich die Finger schmutzig zu machen. In Terravin treffen die beiden Mädchen auf die rustikale „Tante Berdi“, eine enge Vertraute von Pauline. Tante Berdi führt einen Gasthof, wo Lia und Pauline als Hilfe beim Waschen, Kochen und Bedienen gerne gesehen sind.
Diese friedvolle und fast schon harmonische Zeit findet bald ihr Ende, als zwei merkwürdige Gestalten den Gasthof betreten. Beide Männer haben ein Auge auf Lia geworfen. Auch Lia ist dem Fischer und dem Händler schnell zugeneigt. Rafe und Kaden haben beschlossen sich ein Zimmer im Gasthof zu nehmen und beide werben schon bald um die hübsche „Schankmagd“.
Doch die Harmonie ist tückisch, denn der Leser weiß schon bald, dass einer der beiden ein Prinz ist, der ausgezogen ist, um die Prinzessin an seine Seite zu holen und der andere, ein ausgesandter Attentäter, ihr nach dem Leben trachtet. Doch wer von beiden hat welchen Auftrag? Das weiß auch der Leser anfangs nicht.
Hier ist es die unterschwellige Spannung, die man auf jeder Seite spürt und der gekonnte Schreibstil der Autorin, der den Leser das Buch nicht aus der Hand legen lässt. Die Gefahr lauert im Hintergrund und doch spürt man, dass sich zwischen Lia, Kaden und Rafe zarte Bande schmieden. Rafe und Kaden sind Konkurrenten, die beide um Lias Zuneigung kämpfen und das mittlerweile nicht nur aus dem ursprünglichen Grund ihrer Reise. Was wird mit Lia geschehen, wenn die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt?
Mary E. Pearson verwendet für ihren Roman drei verschiedene Perspektiven. Sie schreibt in erster Linie aus der Sicht von Lia, in wenigen Kapiteln aber auch in der Ich-Form aus den Augen des Prinzen und des Attentäters. Hierbei lässt sie geschickt Details weg, die den Leser auf die Spur führen könnten, bei wem es sich um Rafe und bei wem es sich um Kaden handelt, so dass er bei jeder romantischen Szene einerseits hofft, aber andererseits auch bangt.

Fazit:
Der Kuss der Lüge entwickelt sich eher gemächlich, dafür aber bildgewaltig. Die Tiefe der Charaktere und der Geschichte ist der Beweis für das Talent von Mary E. Pearson.
Im Kern ist „Der Kuss der Lüge“ die Liebesgeschichte ihrer Protagonisten. Darüber hinaus eine Mischung aus Abenteuer und "Krimi".
Spannung erhält dieser Roman nicht durch rasante Actionszenen, sondern eher durch eine unterschwellige Gefahr, die stets im Hintergrund präsent ist.
Dieser erste Band der Chroniken der Verbliebenen überzeugt mit einer bildgewaltigen Sprache, spannenden Charakteren und einer konfliktreichen Heldenreise. Absolute Leseempfehlung.

Buchzitate:
Pauline war einfallsreich, aber ich wusste, dass sie nicht furchtlos war, und das machte ihren Mut heute viel größer als meinen. Sie hatte alles zu verlieren. Ich hatte alles zu gewinnen.
Das war es, was ich an Rafe hasste und liebte. Er forderte mich bei allem, was ich sagte, heraus, aber er hörte auch aufmerksam zu. Er hörte zu, als wäre jedes Wort wichtig, das ich sagte.
Es kann Jahre dauern, bis ein Traum Gestalt annimmt. Es dauert nur einen Sekundenbruchteil, um ihn zu zerschmettern.