Rezension

Ein wahrgewordener Traum für jeden Bücherwurm

Die Seiten der Welt
von Kai Meyer

Bewertet mit 4 Sternen

Wie die Existenz und das Schaffen des deutschen Fantastik-Autors Kai Meyer so lange an mir vorbeigehen konnte, ist mir ein Rätsel. Seit 1993 veröffentlichte Meyer über 50 Romane – ich weiß nicht, warum ich volle 21 Jahre brauchte, um auf ihn aufmerksam zu werden. Erst 2014 schob er sich mit „Die Seiten der Welt“ in mein Bewusstsein, weil Fischer eine recht aggressive Werbekampagne für diesen Trilogieauftakt initiierte, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Geduldig wartete ich, bis alle drei Bände erschienen waren, bevor ich die Trilogie begann. Ich glaubte fest daran, dass mich die Geschichte überzeugen würde und ließ mich optimistisch zu meinem ersten Date mit Kai Meyer entführen.

Die angehende Bibliomantin Furia Salamandra Faerfax wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Seelenbuch zu finden. Bisher brachten sie ihre ausgedehnten Streifzüge durch die gigantische Bibliothek ihrer Familie ihrem Ziel, eine vollwertige Buchmagierin zu werden, allerdings keinen Schritt näher. Könnte sie die Welt der Bibliomantik erforschen, stünden ihre Chancen besser, doch das ist unmöglich. Die Familie Faerfax befindet sich seit Generationen auf der Flucht vor der Adamtischen Akademie. Selbst Furias kleiner Bruder Pip, der ohne bibliomantisches Talent geboren wurde, schwebt permanent in Gefahr. Ihr Vater Tiberius hofft, ihren Namen eines Tages reinwaschen zu können, indem er die berüchtigten Leeren Bücher zerstört und somit die Bedrohung der Entschreibung aller Bücher ein für alle Mal beseitigt. Furia unterstützt ihn, trotz ihrer Zweifel an seinem Plan. Doch ihr letzter gemeinsamer Sprung endet katastrophal und plötzlich muss sich Furia allein der bibliomantischen Welt und ihren mächtigen Herrschern stellen.

Für jeden Bücherwurm ist „Die Seiten der Welt“ ein wahrgewordener Traum. Seien wir doch ehrlich: wir alle lieben Bücher über Bücher. An genau diesem Nerv setzt Kai Meyer an. Er formuliert aus, was sich alle Buchverrückten insgeheim wünschen und erschafft daraus ein eigenes Universum, das im Verborgenen parallel zur Realität existiert und sich ausschließlich um die Literatur und das Lesen dreht. Die Bibliomantik konkretisiert die Magie, die wir immer dann spüren, wenn wir ein Buch aufschlagen und spricht unsere tiefsten Sehnsüchte an. Ich glaube, deshalb war es für mich überhaupt kein Problem, ansatzlos in Furias Welt katapultiert und ohne Umschweife mit der Bibliomantik konfrontiert zu werden. Ich musste mich nicht zurechtfinden, weil Meyer mir aus der Seele sprach. Ich bin sehr froh darüber, denn es gab hunderte kleine, liebevolle Details zu entdecken, die ich sonst vielleicht übersehen hätte. Bücherstaub fressende Origamis, ein intelligenter Buchstabenschwarm, sprechendes Mobiliar, aus Büchern gefallene Figuren (Exlibri) – Meyer fährt ein Repertoire wundervoller Einzelheiten auf, die seiner Welt Tiefe verleihen und sie lebendig wirken lassen, woran selbstverständlich auch die Charaktere ihren Anteil haben. Es gefiel mir außerordentlich, dass die Protagonistin Furia abgesehen von ihren bibliomantischen Fähigkeiten ein ganz normales 15-jähriges Mädchen ist. Ich hatte den Eindruck, dass Meyer bewusst darauf verzichtet, sie als strahlende Heldin zu inszenieren und absichtlich auf Realismus und Bescheidenheit hinsichtlich ihrer Konstruktion setzt. Sie fügt sich homogen in die Geschichte ein, statt sie zu dominieren und lässt daher auch Nebenfiguren wie den Exlibri ausreichend Raum. Hach, die Exlibri. Könnt ihr euch vorstellen, wie viel Ehrfurcht ich empfand, als Furia plötzlich Ariel und Puck gegenüberstand? Sie sind Shakespeares Figuren und zwei der berühmtesten Charaktere der Literaturgeschichte. Ich kann absolut nicht nachvollziehen, dass die Exlibri von den meisten Bibliomanten als Lebewesen zweiter Klasse behandelt und in Ghettos gesperrt werden. Sie haben nicht darum gebeten, aus ihren Romanen zu fallen und viele sind damit mehr als unglücklich. Die Bibliomantik ist dafür verantwortlich, weil sie die Grenzen zwischen der Realität und der literarischen Welt porös werden lässt, doch weder die Bibliomanten noch die Adamitische Akademie scheinen sich ihrer Schuld bewusst zu sein. Arbeitet denn niemand daran, die Ursachen des Phänomens zu erforschen und zu beseitigen? Will niemand wissen, warum die Exlibri aus ihren Büchern fallen? Ich begreife zwar, dass die Gefahr der völligen Entschreibung der Akademie weit dringlicher erscheint, aber ich fand es unlogisch, dass sich niemand mit diesen Fragen beschäftigt. Meiner Ansicht nach schluderte Kai Meyer in diesem Punkt ein wenig. Vielleicht plant er, die Problematik in den Folgebänden anzugehen, doch bisher präsentiert er die Existenz der Exlibri als unveränderlichen Fakt. Damit möchte ich mich nicht zufriedengeben, besonders da ich die Handlung von „Die Seiten der Welt“ ansonsten rund und spannend fand. In einem Jugendbuch eine metaphorische Schöpfungsgeschichte mit religiösen Bezügen zu verarbeiten, ist bemerkenswert. Ich bin neugierig, wie weit Kai Meyer den Ansatz des resignierten Schöpfers, der seine Schöpfung sich selbst überließ, treiben wird, denn abgeschlossen ist dieser Handlungsstrang meiner Meinung nach nicht.

Ich denke, es war die richtige Entscheidung, abzuwarten, bis alle drei Bände der Trilogie „Die Seiten der Welt“ erschienen sind, um sie am Stück lesen zu können. Nach der Lektüre des Auftakts halte ich mein Vertrauen in die Geschichte und Kai Meyer als Autor definitiv für gerechtfertigt. „Die Seiten der Welt“ ist ein ganz besonderes Buch, voller Magie und herrlicher Ideen, die mir das Gefühl gaben, ein Teil der Geschichte zu sein. Ich genoss es, mir vorzustellen, selbst eine Bibliomantin zu sein, deren Kräfte unentdeckt vor sich hinschlummern. Es erinnerte mich ein wenig an die leise Hoffnung, irgendwann Eulenpost aus Hogwarts zu erhalten. Denn wer weiß, vielleicht hat mich mein Seelenbuch ja einfach noch nicht gefunden.