Rezension

Ein würdiger Abschluss

Die Geschichte des verlorenen Kindes - Elena Ferrante

Die Geschichte des verlorenen Kindes
von Elena Ferrante

Bewertet mit 4 Sternen

Am Ende des Weges

„Längst wusste ich, dass jeder sich seine Erinnerungen zurechtlegt, wie es ihm passt, noch immer ertappe ich mich dabei, dass auch ich es tue. Aber es verstörte mich, dass man dahin kommen kann, den Fakten eine Ordnung zu geben, die sich gegen die eigentlichen Interessen richtet.“

 

Inhalt

 

Elena beschließt, nach Neapel zurückzukehren, denn als erfolgreiche Autorin sucht sie nun wieder die Nähe zur Heimat und hofft, den üblen Machenschaften endgültig die Stirn bieten zu können und sich als gebildete, weltgewandte Frau von den Streitigkeiten vor Ort distanzieren zu können. Mit ihren zwei Töchtern zieht sie in das gleiche Haus, in dem ihre Jugendfreundin Lila lebt und fortan verbindet sie wieder eine bereits verloren geglaubte Freundschaft, die sich durch die gemeinsame Erfahrung einer zeitgleichen Schwangerschaft noch verstärkt. Elena erwartet von ihrer großen Liebe ein drittes Kind, von dem Mann, mit den schönen Händen, dem bereits so viele Frauen verfallen sind. Doch kaum ist die gemeinsame Tochter Imma geboren, muss sie feststellen, dass Nino sich niemals auf sie festlegen wird, weder in nächster noch in ferner Zukunft. Seine Liebe ist universell, lässt sich nicht auf eine Frau beschränken und zeigt Elena, dass sie eigene Wege gehen muss, wenn sie wieder glücklich werden will. Lila hilft ihr dabei und hält ihr den Rücken frei, bis eines Tages ein Unglück geschieht, dem sich keine der Frauen entziehen kann und welches ihre Freundschaft erneut auf eine harte Probe stellt.

 

Meinung

 

Ich habe ihn sehnlichst erwartet, den vierten Band der Neapolitanischen Saga, der mich ein letztes Mal zu den beiden Freundinnen führen sollte, die auf ihrem bisherigen Lebensweg eine Art Hass-Liebe verband, die zwischen aufrichtiger Bewunderung und nagender Eifersucht schwankte. Nachdem ich insbesondere vom zweiten und dritten Band hellauf begeistert war, freute ich mich nun zu erfahren, wie sich das Leben der beiden im späteren Erwachsenenalter entwickelt und ob es ihnen gelingt, endlich eine tiefere, neidlose, bedingungslose Freundschaft aufzubauen, nach der sie sich zwar gesehnt haben, die ihnen aber bisher nicht möglich war. Der vorliegende Abschlussband fällt, wie ich finde aber wieder etwas von seiner umfassenden Beleuchtung der Befindlichkeiten ab und konnte mich ebenso wie der Auftakt der Tetralogie nicht ganz überzeugten, obwohl ich das Gesamtwerk durchaus als lesenswert und interessant einstufe – insbesondere was die Entwicklung einer lebenslangen Frauenfreundschaft anbelangt. Mit Elena und Lila führt uns die Autorin zwei gegensätzliche Individuen vor, die einander wie Magnete anziehen und sich zeitlebens immer wieder abstoßen, die einander die Welt bedeuten, nur um kurz darauf ein mühseliges Kopfschütteln hervorzurufen. Es ist der zwischenmenschliche Faktor begleitet durch die diversen Schicksalsschläge und persönlichen Verfehlungen zweier starker Frauen, die trotz ihrer differenzierten Sicht auf die Dinge eine gemeinsame, unwiderrufliche Vergangenheit haben und die Kontakt pflegen, weil sie ahnen, dass der Verlust der einen bei der anderen eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen würde.

 

Die Besonderheit des vorliegenden Buches, oder besser der Geschichte in ihrer Gesamtheit ist die einseitig gewählte Erzählperspektive, die den Leser zwar immer wieder zeigt, welche Gedanken Elena als Ich-Erzählerin durch den Kopf gehen, die dennoch ihre Freundin Lila ins Zentrum des Geschehens stellt. So bekommt der Leser einen Eindruck von dieser Frau, die zwischen herzlicher Zuneigung, absoluter Aufrichtigkeit und bitteren Vorwürfen schwankt. Die trotz ihrer unprätentiösen Herkunft viel Ansehen erlangt hat und sich in der Armut ihrer Heimat einen festen Platz erarbeitet hat. Elena hingegen wirkt auf mich trotz ihrer Bildung und eines einigermaßen geradlinigen Lebensweges immer etwas Abseits, nie zollt sie ihrer eigenen Person den gebührenden Respekt und immer scheint sie die Antwort der Freundin zu brauchen, bevor sie bereit ist eigene Entscheidungen zu treffen. Besonders auffallend tritt dieses Unvermögen im vorliegenden Band auf. Gemeinsam mit Elena geht der Leser durch die Höhen und Tiefen ihres Privatlebens und vieles wirkt nicht nur übertrieben, sondern wird direkt als Drama inszeniert. Dieses emotionale Auf und Ab, hat mich hier etwas gestört, weil ich mir erhofft hatte, das mit zunehmenden Alter auch ein innerlicher Reifeprozess eintritt. Doch so sehe ich auch am Ende der Saga nach wie vor zwei individuelle Charaktere, die sich ihrem Leben unterschiedlich genähert haben und dennoch irgendwie auf der Stelle treten.

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für den vorliegenden 4. Band der Neapolitanischen Saga, die ich in der Gesamtheit noch etwas besser bewerte als im Einzelnen. Es ist eine andauernde, für mich durchaus italienische Erzählung über die Wertigkeit einer lebenslangen Freundschaft mit all ihren Fallstricken. Der Autorin ist mit dem Gesamtwerk ein interessanter Wurf gelungen, den man sicher auch noch einmal lesen kann, weil er so intensiv und ausführlich über die allseits bekannten Belange eines Menschenlebens spricht. Zwei Frauen, die sich fanden, umeinander Halt zu geben, die sich um den gleichen Mann stritten, die Fehler und Zugeständnisse machen mussten und denen die andere immer wie ein Spiegel vorkam, ein Vorbild, welches nicht erreichbar aber immer im Herzen blieb – die andere Seite der Medaille, die nur so lange so schön glänzt, wie sie gemeinsam brillieren konnten. Ich empfehle die Lektüre in erster Linie Frauen, die auch eine so herausfordernde Beziehung kennen und um ihren unschätzbaren Wert wissen.