Rezension

Eindringliche Darstellung der deutschen Besetzung und Samuel Becketts Tätigkeit für die Résistance

Ein Ire in Paris
von Jo Baker

Bewertet mit 5 Sternen

Jo Baker hat Samuel Becketts Kriegsjahre in Paris und im französischen Widerstand als Romanbiografie gefasst, die mit dem „Ende“ beginnt und endet mit dem „Beginn“ (Becketts Schaffen nach dem Krieg). Der Prolog zeigt Beckett und seinen Bruder Frank, die 1919 als Kinder einen Baum erklettern. Becketts aufgeschürfte Knie beschreibt Baker dabei so bildhaft und unvergesslich, dass nach ihr kein anderer Autor mehr das Brennen von Schürfwunden beschreiben müsste …

20 Jahre später lebt Beckett in Paris mit Suzanne, einer Autorin und Musikerin, die sich des verletzten, ahnungslosen Iren annimmt, ihn versorgt und ernährt. Trotz der finanziellen Zuwendungen seiner Mutter und niedriger Lebenshaltungskosten muss Beckett knapp bei Kasse gewesen sein. England und Frankreich haben gerade Deutschland den Krieg erklärt. Um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten und damit ein Recht auf Lebensmittelkarten, benötigt der irische Autor Referenzen seines Verlages. Offiziell übersetzt Beckett seinen eigenen ersten Roman Murphy in Französische; später wird das eine passende Legende sein, um für die Résistance zu arbeiten. Als Becketts Freund Alfy eingezogen wird und ihn bittet, sich im Fall seines Todes um seine Frau und seine Kinder zu kümmern, hat der Krieg auch den Iren endgültig erreicht. Die Menschen rechnen mit einem Angriff auf Paris, es wäre klug, die Stadt rechtzeitig zu verlassen.

Zitat
Zu dieser Tageszeit sind nicht allzu viele Menschen in der Métro. Auch gut, denn sie sind allesamt Polizeispitzel, die ihn anstarren. Nicht ohne Grund: Seine Tasche hat sich zur Größe eines Koffers aufgebläht, seine Beine sind zu lang für ihn geworden, und seine Ellbogen ragen wie Kleiderbügel heraus. Er ist eine Schnake, die einen Ziegelstein transportiert. Ein Flamingo, der einen Kleiderschrank schleppt. Wem würden da nicht die Augen aus dem Kopf fallen?“ (Seite 132)

Auf der Flucht braucht man Geld, falsche Papiere, Kontakte, Entschlossenheit, über nichts davon verfügt Beckett. Im Gegenteil, in der Fremde fällt es schwerer als in vertrauter Umgebung, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und sich vor Spitzeln zu hüten. Streckenweise scheint Suzanne ihn wie ein Kind zu beschützen. Ihre Flucht führt Suzanne und Beckett nach Vichy, Arcachon, Vaucluse, Lacroix, wieder nach Paris und Beckett schließlich als Mitarbeiter des Roten Kreuzes nach Saint Lô in der Normandie, wo Irland nach dem Krieg den Wiederaufbau des zerstörten Hospitals organisiert.

Zitat
So stellt man also fest, dass man weiterlebt. Man produziert weiter Schleim [wie eine Schnecke] und schleppt sich weiter durch diese Welt. Denn Leben ist jetzt eine bewusste Entscheidung. Ein Akt des Widerstands. Und darin liegt eine gewisse Befriedigung. Man lebt, so hart der Kampf auch sein mag, um den A... zu trotzen, die einen tot sehen wollen.“ (Seite 240)

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Doch stattdessen geht er los, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Stein zwischen seinen Fingern drehend, der Kragen kratzig an seinem Unterkiefer. Geht einfach weiter durch die angeschlagene, darbende, abgezehrte Stadt, durch die von klappernden Schritten, Stimmen und rumpelnden Karren widerhallenden Straßen, vorbei an den Männern in ihren alten Mänteln und kaputten Schuhen, den jungen Frauen mit ihren abgetragenen Kleidern und ihrem leuchtenden Lippenstift, den alten Damen in Schwarz, die mit ihren Einkaufstaschen und Haarnetzen durch den Krieg getippelt sind. … Sie haben alle deutschen Schilder und auch die gelben Anschläge an den jüdischen Geschäften heruntergerissen.“ (Seite 327)

Über Paris unter deutscher Besatzung haben schon viele Autoren geschrieben. Jo Baker zeichnet sich aus durch die unvergesslichen Bilder, die sie wie mit dem Zeichenstift hinwirft und die ihren Lesern Raum lassen, die Umrisse selbst zu füllen. Stock und dunkle Brille – fertig ist mit wenigen Worten Bakers Skizze von James Joyce. Kaum ein Autor hat bisher Hunger, Angst, Kälte, Schmerzen in so eindringlichen Bildern gezeigt wie Jo Baker.