Rezension

Eine Art Wunderland

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 4 Sternen

Selten habe ich ein Buch gelesen, das so unterschiedliche Meinungen und Interpretationsansätze liefert, wie 'Leinsee' von Anne Reinecke. Allein das Ende des Buches wurde in einer Leserunde wohl auf ca. 5 unterschiedliche Weisen gedeutet, wobei mir meine Interpretation eigentlich total unzweifelhaft als geschlossenes Ende erschien. :D Andere haben ganz eindeutig ein offenes Ende gelesen und wieder andere auch ein geschlossenes, aber ganz anders ausgelegtes.
Das zeigt, dass eine Rezension dieses Romans nur EINE von vielen subjektiven Meinungen ist, nicht wirklich klar gesagt werden kann, was die Autorin zum Ausdruck bringen will und jede Auseinandersetzung mit einem weiteren Leser wird neue Ansätze und Assoziationen hervorrufen. 

'Leinsee' handelt von Karl Stiegenhauer, dem Sohn eines gefeierten Künstlerehepaares, der selbst Künstler ist und nach dem Selbstmord seines Vaters in sein Elternhaus zurückkehrt. Sein Leben verlief in den Jahren zuvor ohne nennenswerten Kontakt zu seinen Eltern und einen Bezug zu seinem alten Zuhause zu finden, fällt Karl schwer. Ein wichtiger Bezugspunkt wird für ihn bald ein kleines Mädchen, das sich in seinen Garten stielt und in einem Baum sitzt und Karl beobachtet. Bald machen die beiden zusammen Kunst und werden Freunde. Diese besondere Verbindung zieht sich durch die Jahre und ist der rote Faden des Romans. 

Für mich ließ sich an der besonderen Verbundenheit, die Karl und Tanja (das Mädchen) verbindet, ablesen, dass Freundschaft bzw. Liebe keine Frage des Alters ist und 'Erwachsensein' bzw. sich erwachsen zu verhalten nicht nur alten Menschen vorenthalten ist, genauso wie 'Große' sich oft 'kindisch' benehmen. Alter ist nur eine Zahl und die wichtigsten Beziehungen führen wir mit Menschen, die uns ungeachtet dieser kalendarischen Unterschiede zuhören und die wir ernst nehmen. 

Der Titel meiner Rezension ist daher auch eine Assoziation zu eben diesem Thema, denn Tanja kommt mir in der Welt von Karl vor wie Alice im Wunderland. Klar gehört sie da 'eigentlich' nicht hin, doch sie bringt einen ganz besonderen Zauber in diese Welt und bereichert die Leben der Erwachsenen, die sie trifft und von denen sie willkommen geheißen wird. Aber natürlich gibt es auch eine böse Herz-Königin. Letztlich ist Tanja irgendwie 'Retterin' dieses Wunderlandes und seines wichtigsten Bewohners. Die Assoziation kommt nicht von ungefähr, eine der Schlüsselszenen des Romans ist eine verquere Teeparty im Stiegenhauerschen Anwesen, bei der Tanja Ehrengast ist und sogar gekleidet ist wie Alice aus dem Disney-Zeichentrickfilm. 

Und wie das mit guten alten Märchen so ist, sind auch die Guten nicht wirklich durch und durch gut und es gibt an den Charakteren in Leinsee auch so einiges auszusetzen. Gerade Tanja ist von Anfang an auch ein wenig undurchschaubar und agiert nach ihrer ganz eigenen Agenda. 

So ist Leinsee schlussendlich kein Roman, der mir aufgrund seiner Geschichte oder der Charaktere ans Herz wächst. Ich bin mir abschließend nicht sicher, was ich von diesem Roman mitnehme und wie ich das finde. Ich KANN für mich passende positive Botschaften hineininterpretieren, bin mir aber bewusst, dass das keineswegs von der Autorin so gedacht sein muss. Was mich aber beeindruckt, ist die Form des Romans und die Schreibkunst von Frau Reinecke. Diese sich durch das Buch ziehende unterschwellige Parallelität zum Carroll'schen Wunderland finde ich genial gemacht und sie eröffnet einen ganzen Pool an möglichen Interpretationen. Die Sprache ist unaufgeregt und trotzdem dynamisch, obwohl kein Nervenkitzel entsteht, zieht sie einen zügig durch den Roman. Da es sich um ein Debüt handelt, kann man vielleicht verzeihen, dass sich die Geschichte in der zweiten Hälfte des Buches zu verselbständigen scheint und die in der ersten Hälfte thematisierten Konflikte kaum noch zum Tragen kommen. Hier wäre ein wenig mehr Geschlossenheit stimmiger gewesen. Alles in allem eine vielversprechende Autorin und sicherlich goldrichtig bei Diogenes!