Rezension

Eine besonders intensive Charakter- und Gesellschaftsstudie

Niemand ist bei den Kälbern - Alina Herbing

Niemand ist bei den Kälbern
von Alina Herbing

Bewertet mit 4 Sternen

200 Milchkühe und doch kein Idyll

„Sonnenlicht strahlt zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Es ist vollkommen still. Ich hab geträumt, dass ich in Hamburg war, in einem riesigen Karussell immer im Kreis gefahren bin und über die gesamte Stadt gucken konnte.“

Inhalt

Christin möchte so gerne weg, hinaus in ein freies, selbstbestimmtes Leben abseits der Einöde und Verantwortlichkeiten, die der heimische Bauernhof ihr tagtäglich auferlegt. Sie kauft sich teure Schminke, träumt sich in die Großstadt und steckt doch irgendwie fest – gefangen zwischen 200 Milchkühen und einer Landschaftsidylle, der sie rein gar nichts abgewinnen kann. Ihr langjähriger Freund Jan ist ein Bauernsohn und schon jetzt mit dem Hof verheiratet, so dass Christin mit offenen Augen nach einem neuen Partner Ausschau hält, einen, der ihr die Welt zeigt, der sie mitnimmt in ein anderes Leben. Als in ihrem Heimatort die Männer der Windkraftanlage auftauchen, stürzt sie sich voller Vergnügen in ein Abenteuer, dass sie teuer zu stehen bekommt. Denn die aufkeimende Hoffnung ihrerseits wird bitter enttäuscht, nicht ein anderer Mann kann sie mobilisieren, sondern allein ihre eigene Entschlusskraft, wenn sie diese denn aufbringt …

Meinung

Auf diesen Debütroman der jungen deutschen Autorin Alina Herbing bin ich aufmerksam geworden, nachdem ich viele begeisterte Leserstimmen in der Romane Challenge auf lovelybooks wahrgenommen habe. Vielleicht auch, weil ich persönlichen Bezug dazu habe und mittlerweile selbst auf dem Land lebe. Dass es sich hier nicht um ein Loblied auf die ländliche Idylle handelt, war mir bereits zu Lesebeginn bewusst und so konnte ich mich umso intensiver mit den Charakteren des Romans auseinandersetzen.

Die Autorin schafft hier ein kleines Meisterstück, dem man nicht anmerkt, dass es sich um ein Debüt handelt. In fast alltäglichen Situationsbeschreibungen lässt sie Menschen sprechen, die sich nicht mit ihrem Leben identifizieren. Sie schreibt nicht nur von Perspektivlosigkeit, nein sie schildert das mühevolle Leben mit schlecht bezahlten Jobs und daraus resultierender Kleinkriminalität. Sie beschreibt die Problematik des Alkoholismus nicht nur damit, dass man keinen Lebenssinn gefunden hat, sondern auch als Möglichkeit, sich von den tatsächlichen Problemen zu distanzieren. Und was mir besonders gefällt, ist die gewählte Ich-Erzählperspektive, die es möglich macht, zumindest zeitweise eine Hauptprotagonistin zu erleben, die kämpft. Die gegen ihr Leben rebellieren möchte, verzweifelt einen Ausweg sucht und sich doch verdrossen in die Alltagsroutine zwischen Kühe melken und Ernte einholen integriert. Ihre mutwilligen Sabotageakte wirken echt und lassen die zunehmende Verzweiflung ihrerseits zum Vorschein kommen.

Darüber hinaus gefiel mir die Aussage hinter der eigentlichen Handlung, die durchaus sehr tiefsinnig und bestimmend war. Ich mochte es, wie Frau Herbing einen Zusammenhang zwischen all den trübsinnigen Handlungen, den Exzessen, der generellen Lebenseinstellung und der Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln schafft. Damit wird ganz klar deutlich, dass man sich als unbeteiligter Dritter für Christin etwas Anderes wünscht, dass man aber auch einsieht, dass es im Leben nur dann vorwärts geht, wenn man selbst die Initiative ergreift und sich nicht in ein von außen vorgefertigtes Schema pressen lässt. Was für den einen die Erfüllung ist, grenzt für den anderen an absolute Sinnlosigkeit.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen Debütroman mit einer ungewöhnlichen, wenn auch nicht absonderlichen Thematik, der nicht nur das Landleben kritisiert, sondern den Leser sehr einfühlsam in das Innere seiner Protagonisten schauen lässt. Wer bereit ist, etwas über den Tellerrand zu schauen und sich von der Gutbürgerlichkeit zumindest während des Lesens trennen kann, erlebt interessante Ausflüge in ein Leben, welches man dennoch nicht geschenkt haben möchte.