Rezension

Eine der berührendsten Geschichten der Welt

Das Phantom - Susan Kay

Das Phantom
von Susan Kay

Susan Kay erzählt in „Das Phantom“ die unglaublich tragische und dramatische Lebensgeschichte eines schwer missgebildeten und somit zum Tragen einer Maske verdammten Genies, dem viel zu selten Liebe und Respekt entgegengebracht wird und das so eine Schale des Hasses um sich errichtet und sich später selbst zum Phantom der Pariser Oper ernennt.

„Das Phantom“ ist die vollständige Biographie des „Phantom der Oper“, der berühmten Romanfigur von Gaston Leroux. Susan Kays Roman gibt Antwort auf viele Fragen, die Leroux' Werk möglicherweise aufwirft - doch kann man die beiden, komplett unterschiedlichen Werke, nur bedingt miteinander vergleichen und gerade zum Ende hin weicht Susan Kays Roman von der Vorlage ab und bewegt sich in eine ganz andere Richtung. „Das Phantom“ ist so gesehen auch eine Neuinterpretation der berühmten Roman- und Musicalfigur und ein vertiefender Begleitroman, der aber auch als eigenständiges Werk gesehen werden kann oder sogar sollte.

Hier zwei Zitate, die ich ausgewählt habe, weil ich finde, dass sie sehr gut die Gründe für den Konflikt, in dem der Leser zu dem Erik aus Susan Kays Roman steht, darstellen.

Erstes Zitat: „Mein Sohn würde sterben. Und dieser seltsame, maskierte Mann - der ohne Gewissensnöte tötete und von Moral jeder Art unberührt schien - war von tiefem Mitleid bewegt.“

Zweites Zitat: „Er nahm die Maske ab und drehte sich langsam zu mir um, damit ich ihn ansah. ‚Dieses Gesicht, das mir alle Rechte eines Mannes genommen hat, befreit mich auch von allen Verpflichtungen gegenüber der menschlichen Spezies‘, sagte er ruhig. ‚Meine Mutter hat mich gehasst, mein Heimatdorf hat mich ausgestoßen, ich wurde wie ein Tier in einem Käfig ausgestellt, bis ein Messer mir den einzigen Weg zeigte, frei zu sein. Die Freuden der Liebe werden mir immer verwehrt sein. Aber ich bin jung, Nadir, ich habe dieselben Wünsche wie jeder normale Mann.‘ Ich sah zu, wie er die Maske müde wieder anlegte.“

Diese paar Zeilen zeigen, dass das „Phantom“ ein sehr vielschichtiger Charakter ist.

Erik, so grausam und mordlüstern er teilweise sein mag, ist bloß Produkt einer Gesellschaft, die ihn mit ihren Vorurteilen seinem abstoßenden Gesicht gegenüber zu dem gemacht und verdammt hat, zu dem er letztendlich geworden ist. Die Autorin beleuchtet gekonnt die Schattenseiten der Gesellschaft und technisch gesehen ist Erik nicht schlimmer als einige andere Menschen aus dem Roman, wobei Erik sich für seine Taten sogar rechtfertigen könnte. 1831 geboren (†1881), werden ihm schon in seiner frühesten Kindheit Liebe und Zuneigung verwehrt. Dieser Umstand und folgende traumatische Ereignisse hinterlassen natürlich ihre Spuren auf Eriks Seele und machen ihn zu einem traurigen, verzweifelten, herumirrenden, misstrauischen und vor allem bemitleidenswerten Geschöpf. Ich finde es bewundernswert, dass er trotz allem, was ihm Schlimmes widerfahren ist (und egal, wie sehr Erik sich dagegen zu sträuben versucht), noch zu menschlichen Gefühlen, wie Empathie, fähig ist. Der Leser kann mit Erik sympathisieren, weil er verstehen kann, wieso Erik so handelt, wie er eben handelt.

Im letzten Teil des Romans bewegt sich die Geschichte mit dem Auftauchen von Christine Daaé in eine romantische Richtung und das Ende von Susan Kays Roman weicht, wie schon erwähnt, von dem Ende von Gaston Leroux' Roman ab. Aber die Autorin hatte keine Wahl, als ihren Roman so enden zu lassen, weil wir ihren Erik von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Das Ende ist wirklich wunderschön.

Susan Kay hat einen grandiosen Roman geschrieben. Inhaltlich und sprachlich stimmt einfach alles. Durch die wechselnde Ich-Perspektive in den einzelnen Jahren erhält man Einblick in die Innenwelt aller wichtigen Charaktere. „Das Phantom“ ist spannend und unterhaltsam geschrieben und ist voll von wunderschönen und weisen Sätzen sowie mitreißenden Passagen.

Fazit: „Das Phantom“ von Susan Kay ist ein fesselnder und ergreifender Roman über eine der wohl faszinierendsten und mysteriösesten fiktiven Figuren aller Zeiten mit einer tiefen und wichtigen Botschaft, die auch in der heutigen Zeit nicht in ihrer Bedeutung einbüßt.