Rezension

Eine Erzählung, die berührt – von seltener sprachlicher Intensität

Widerfahrnis
von Bodo Kirchhoff

Bewertet mit 5 Sternen

Gegen Ende des Romans, als es darum geht, einem Mädchen zu helfen, sagt Reither: »… ich weiß ja nicht, woran sie glaubt, an Allah, oder an wen glaubt sie?« Und Leonie Palm antwortet: »Im Moment glaubt sie an uns, Reither.«

Diese Sätze sind nicht untypisch für die beiden Hauptprotagonisten von Bodo Kichhoffs Novelle »Widerfahrnis«: Julius Reither, immer nur Reither genannt, der seinen kleinen Verlag aufgegeben hat, und Leonie Palm, ehemalige Besitzerin eines Hutgeschäfts. Reither immer wieder reflektierend, die Gedanken stehen dem, was er tun und leben möchte, immer wieder im Weg; bei Worten, die ihm einfallen oder die Leonie spricht, fragt er sich immer wieder, ob er die in einem Buch hätte durchgehen lassen. Und Leonie: mehr lebensklug, direkt, in den Situationen, die sich ergeben, handelnd.

Die Novelle erzählt vom Verlust, den beide erlitten haben – damit ist nicht die Aufgabe von Verlag und Hutgeschäft gemeint –, von einem Glück, das sich entwickelt und das Reither halten möchte. Reither ist der Erzähler des Buchs – auch von ihm wird in der dritten Person erzählt, aber der Leser, die Leserin, erfahren seine Gedanken, Hoffnungen, das, was ihn – bisher verdrängt – bedrückt, aus seiner Innensicht, bei Leonie und den anderen Personen von außen und durch das, was sie sagen, wie sie handeln.

Das Buch ist von großer sprachlicher Dichte: Beim Lesen folgt man den Worten, den Sätzen und folgt so dem, was mit den Personen, was in ihnen geschieht, was sie denken, empfinden. Die Entwicklung der Figuren (für den Leser) und die Entwicklung der Handlung fallen zusammen, es gibt keine Sätze, die nur die Handlung vorantreiben sollen, alles hat seine Bedeutung und passt in die Entwicklung der Personen und der Handlung. Das Buch endet dann mit einer Art Paukenschlag, der die vorige Erzählung in neuem Licht erscheinen lässt.

»Widerfahrnis« meint, wenn ich recht verstehe, dass Personen – im Buch: Reither, Leonie Palm – etwas widerfährt, das sie nicht unverändert lässt. Ein Stück »Widerfahrnis« kann dieses Buch vielleicht auch für den Leser, die Leserin bedeuten. Eine Erzählung, die berührt, in der man sich auch immer mal wieder selbst erkennen mag, sprachlich hervorragend – und gut zu lesen, wenn man sich darauf einlassen kann.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 02. Oktober 2016 um 14:39

Ende mit einer Art Paukenschlag - das gefällt mir!

Naibenak kommentierte am 02. Oktober 2016 um 15:37

Großartig! Dankeschön für die tolle Rezi, das Büchlein rutscht nun noch ein Stückchen höher auf meiner WuLi... oder ach was...warum nicht gleich besorgen? ;)

wandagreen kommentierte am 02. Oktober 2016 um 17:42

Das ist die richtige Haltung, Bi, so müssen Rezensionen wirken, damit sie Maren und Co. freuen!

Naibenak kommentierte am 02. Oktober 2016 um 19:06

Ja ist doch wahr! Ihr 2 habt mich aber auch echt angefixt mit euren tollen Rezensionen :-D Ich werde es gleich nach dem Stanišić lesen^^

Steve Kaminski kommentierte am 02. Oktober 2016 um 22:36

Schön ist es vor allem, wenn die Rezis Sinn machen und jemandem was sagen und nicht nur unter den vielen Titeln durchrauschen! So freue ich mich über Deine Reaktion - und hoffe, dass Dir das Buch dann auch was sagt! Viele Grüße!

E-möbe kommentierte am 19. November 2016 um 17:46

Sinn machen ... Das hätte Reither bestimmt nicht durchgehen lassen. ^^

Steve Kaminski kommentierte am 19. November 2016 um 18:06

Na ja... Eine Bekannte ist 1. Vorsitzende des nicht existierenden Vereins gegen den Gebrauch der Redewendung "Sinn machen". Aber man muss es - Reither hin oder her - ja nicht immer sooo genau nehmen :-)

Naibenak kommentierte am 25. Oktober 2016 um 11:42

Ihr beiden... gestern nun habe ich das Buch beendet. Ich kann nur sagen GROßARTIG!!! Danke für eure tollen Rezensionen, ohne die ich sicher nicht diese Novelle in die Hand genommen hätte :-) <3

Steve Kaminski kommentierte am 25. Oktober 2016 um 13:32

Das freut mich! Wobei ich das Buch wahrscheinlich ohne Wandagreens Rezension nicht gelesen hätte. Sie war also gewissermaßen die Henne... oder das Ei... jedenfalls das, was zuerst da war :-)

marsupij kommentierte am 14. Januar 2017 um 19:06

So, nun auch deine Rezension gelesen. Ganz toll! So habe ich das Buch auch empfunden, hätte es aber nicht in so tolle Worte fassen können.

Steve Kaminski kommentierte am 14. Januar 2017 um 21:57

Danke! Wobei ich Wandas eher besser fand.