Rezension

Eine Geschichte, die einen nicht kalt lässt

Die Tänzerin von Paris - Annabel Abbs

Die Tänzerin von Paris
von Annabel Abbs

Bewertet mit 4 Sternen

Über Lucia Joyce wirkliches Leben ist nicht viel überliefert worden. Briefe, sowie Dr. Jungs Unterlagen wurden alle absichtlich verbrannt. 
Aus den übrig gebliebenen Eckdaten schreibt Annabel Abbs eine traurige und erzürnende Geschichte. 

Der Roman beginnt im zürcherischen Küsnacht, in der Praxis von Dr. Carl Jung. Er versucht herauszufinden, wie es ihr geht, was der Grund für ihre schwierige Gemütslage ist. Viel erzählt Lucia nicht, doch sie taucht in Erinnerungen ab und wir Leser verstehen immer mehr.

Lucia, die an verschiedenen Orten aufwuchs, fühlt sich in Paris wohl. Hier lebt Familie Joyce nun schon länger, und so langsam kommt Heimatgefühl in ihr auf. Sie tanzt leidenschaftlich und würde gern eine Karriere aufbauen, doch ihre Familie engt sie derart ein, dass sie kaum Luft zum Leben hat. Als sie sich Hals über Kopf in Samuel Beckett verliebt und ans Heiraten denkt, erhofft sie sich dadurch auch mehr Freiheit - weg von den Eltern, endlich "ihr Ding" machen. 
Doch daraus wird nichts, denn ihre Eltern zerstören jeden Funken Hoffnung, den sie hat. 
Andererseits fehlt Lucia aber auch der Mut, den Ausbruch zu wagen. Hätte sie sich den Eltern widersetzt wäre ihr Schicksal wohl anders verlaufen. Vielleicht war sie trotz aller Eingeengtheit zuhause ein wenig stolz darauf, die Muse ihres Vaters zu sein und dachte, dass er bald sein Werk beende und danach alles besser würde für sie. Dass James Joyce jahrelang an seinem "Work in Progress"-Buch sass, verbesserte die Situation natürlich nicht. Lucia war "Tochter von Beruf" - wenn nicht bei ihr, bei welcher Frau passt diese Bezeichnung besser?

Ihre Mutter Nora ist eine gehässige Schreckschraube, sie ist schrecklich eifersüchtig und nörgelt nur an Lucia herum. Und Lucias oberflächlicher Bruder Giorgio läuft nur dem Geld hinterher. Lucia ist enttäuscht, ihr geliebter Bruder wird plötzlich zum Saulus. Giorgio ist geldgierig, genau so wie sein Vater schmeisst er Geld herum - und es ist nicht mal seines. Sie selbst hatten Nichts und wurden von spendablen Gönnern finanziert, was die Familie total ausnützte. Nur Lucia hätte gerne ihr eigenes Geld verdient, doch man erlaubte es ihr nicht. 
So steckt Lucia fest in einer Stadt voller Künstler, die Neues ausprobieren, sich selbst erfinden. Nur sie selbst muss dabei zu sehen, auch ihre Freundinnen sind alle schon viel selbstständiger. 

Die Männer im Buch sind entweder grössenwahnsinnige Paschas oder feige Kerle wie Samuel Beckett. Samuel getraut sich - aus welchem Grund auch immer - nicht offen zu reden. Er war Lucias grosse Liebe, die unerwidert blieb. 

Fiktive Geschichten zu kritisieren fällt mir bedeutend leichter als solche mit realen Personen wie im vorliegenden Buch, auch wenn sie schon verstorben sind. Man weiss zwar nie, ob die Charaktere wirklich so waren oder überzeichnet sind. Trotzdem wird zumindest ein Teil Wahrheit dabei sein, Lucia war auf jeden Fall überbehütet. Deswegen hätte ich Lucia am liebsten aus dem Haus gezogen. Mein Mitleid hatte sie, die Beschreibungen machten mich traurig und wütend zugleich, so dass ich jeweils spätestens nach 40 Minuten Lesen eine Pause brauchte, um runterzukommen, bevor ich weiterlesen konnte.  

Lucias Geschichte ist bitter und macht betroffen, denn als Leser erlebt man ihre "Gefangenschaft" hautnah mit und kann nicht eingreifen. 
Ihre Gedanken fand ich extrem gut geschildert, ihr Dilemma war zu spüren. Der Autorin verleiht Lucias innerer Welt eine Stimme. Annabel Abbs ist mit der Aufarbeitung von Lucia Joyces Leben ein aussergewöhnliches Werk gelungen. 
Fazit: "Die Tänzerin von Paris" beschämt und bedrückt, und dennoch lässt einem die Geschichte nicht los. 
4 Punkte.