Rezension

Eine Jugend fest im Griff von Bruce Lee und japanischen Superhelden-Comics

Meine 80er Jahre - Eine Jugend in Taiwan - Sean Chuang

Meine 80er Jahre
von Sean Chuang

Bewertet mit 5 Sternen

Die Straßenszene auf Seite 23 zeigt das „alte“ Taiwan: eine gepflasterte Gasse, deren einstöckige Häuser sich hinter hohen Mauern verbergen. Im Hintergrund ist ein einzelner Strommast zu ahnen. Weit und breit ist kein Fahrzeug zu sehen; Kinder spielen in der Gasse. In diese überschaubare Welt dringt mit Film, Fernsehen und Werbespots die Moderne ein. Sean Chuang besitzt kaum Fotos aus seiner Kindheit, weil damals  nur wenige Menschen in Taiwan eine Kamera besaßen. Aus der Sicht eines Kindes dokumentiert er aus der Erinnerung und an alltäglichen Kleinigkeiten, was seine Generation der nach 1980 Geborenen prägte, die erste Generation in Taiwan, die im Frieden aufwuchs.

Seans Eltern waren beide Lehrer; seine Mutter arbeitete als Klavierlehrerin und nimmt ihren Sohn mit in die Klavierstunden, die sie selbst zur Fortbildung absolviert.  In eine Welt, in der man noch mit Dampfzügen reist, dringen zügig Roboterfiguren aus japanischen Serien und Videospiele ein. Anfangs kann sich kaum jemand die Importwaren leisten, einige der martialischen Spielzeuge werden in Taiwan verboten. Später wird sein Traum vom Motorroller den Autor prägen und seine Begeisterung für Bruce Lee, die bei Familie Yongxin zu einem Loch im Kleiderschrank führt … Auf Drängen seines Vaters besucht Sean in Taipeh eine Handels- und Kunstschule. Zwangsläufig muss er in der Großstadt selbstständig leben und über das Chaos in seiner Jungs-WG herrschen.

Die Epoche 1976 bis 1990, die Sean Chuang in seinem biografischen Rückblick in Erinnerung ruft, wird in Taiwan vom Ende des Kriegsrechts geprägt, vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die USA und vom wachsenden Einfluss der USA durch Film, Merchandising-Produkte und die Eröffnung von Macdonalds-Filialen in ganz Asien. Als Europäer kann man Vergleiche zu eigenen Sport- und Film-Idolen der Zeit ziehen und zum Zeitpunkt, als der erste PC ins Haus kam.

Mit für eine Graphic Novel sehr ausführlichem Text, Zeittafeln und hilfreichen Anmerkungen des Übersetzers direkt auf der Seite vermittelt Sean (Zhuang Yongxin) den Kulturschock, den die Generation seiner Eltern angesichts der technischen Entwicklung der 80er empfunden haben muss. Seine Kinderfiguren ähneln mit ihren eckigen Köpfen Funko Pop-Figuren und symbolisieren aus meiner Sicht das Zusammentreffen von alten Werten (sauberer Haarschnitt)  und einem äußerst optimistischen Blick der Kinder der 80er in die Zukunft. Verblüfft bin ich über die Gemeinsamkeiten europäischer und taiwanesischer Kindheiten unter der Fuchtel japanischer Superhelden. Wie sich das Aufwachsen in Taiwan und in der Volksrepublik China damals unterschieden, dafür öffnet Sean mit seiner detailtreuen Darstellung den Blick.  Auf den 2. Band seiner Erinnerungen bin ich gespannt.