Rezension

Eine lebenslange Freundschaft

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

 

„Sie wollte sich in Luft auflösen, … nichts von ihr sollte mehr zu finden sein“. Diesen lang gehegten Vorsatz Raffaelas, kurz Lila genannt, scheint sie nun im Alter von  mehr als sechzig Jahren tatsächlich in die Tat umgesetzt zu haben.

Doch ihre Freundin Elena, die Lilas spurloses Verschwinden nicht akzeptieren will, beginnt, ihre  Geschichte schriftlich festzuhalten. Es entsteht die lebhafte, angenehm leicht geschriebene Erzählung einer komplizierten Freundschaft.

Schon als kleine Mädchen aus dem Arbeiterviertel Rione in Neapel versprechen sich die zwei Freundinnen gegenseitig, eine bessere Zukunft anzustreben und ihrem Milieu zu entkommen. Lenú und Lila wachsen in den 40er und 50er Jahren in einer Gesellschaft auf, in der Gewalt alltäglich ist und Mädchen und Frauen eine untergeordnete Stellung einnehmen:  „Es passierte alles Mögliche, zu Hause und draußen, Tag für Tag, doch ich kann mich nicht erinnern, jemals gedacht zu haben, dass unser Leben besonders schlimm sei. Das Leben war eben so, und damit basta…“, sagt Lenú schlicht.

Aus Elenas Sicht schildert die Autorin lebendig und sehr stimmungsvoll das Auf und Ab ihrer Freundschaft vor dem düsteren, realistisch erscheinenden Hintergrund des alltäglichen Lebens in dem Problem-Stadtteil. Zutiefst ehrlich und sensibel wirken ihre Gedanken zu Lilas und Lenús Beziehung; die Bewunderung, die Elena für ihre Freundin hegt, wird deutlich, aber auch der Neid und gelegentliche Selbstzweifel, die sie zwischendurch immer wieder aus der Fassung bringen. Ferrante erzählt auf ihre lockere Art, wie beide Mädchen einen Weg suchen, dem anscheinend vorbestimmten Leben im Elend zu entfliehen; die naiven Vorstellungen ihrer Kindheit weichen konkreten Vorstellungen, als sie zu Teenagern werden. Während die eigentlich angepasste Elena sich ein Fortkommen durch höhere Bildung erarbeiten will, wählt die eher aufmüpfige Lila, einst Elenas Vorbild, einen völlig anderen, traditionellen Weg. Die Entwicklung des Romans hält mit der Weltsicht der beiden Mädchen Schritt, von den verträumten Grundschulkindern bis hin zum beginnenden sozialpolitischen Bewusstsein von 16jährigen Teenagern. So endet der erste Band der vierteiligen Familiensaga, in der Elena Ferrante ausführlich von Kindheit und früher Jugend der Mädchen erzählt, mit einer folgenschweren Entscheidung Lilas. Der Leser bleibt erwartungsvoll zurück: Wie mag es den jungen Frauen auf ihrem Weg weiter ergehen? Werden sie es schaffen, aus ihrer bedrückenden Umgebung auszubrechen?