Rezension

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Eine lesenswerte Ansammlung der Geschichten aus der Familie italienischer Eismacher.

Die Eismacher
von Ernest van der Kwast

Bewertet mit 4 Sternen

Lesenswerter Roman, der Geschichten italienischer Eismacher erzählt. Figuren wie aus dem wirklichen Leben. Aussagestarker Schreibstil. Tiefe Gedanken.

Der Roman „Die Eismacher“ von Ernest van der Kwast gehört eher ins Fach Literatur. Obwohl er ernsthaft versucht unterhaltsam zu sein, da er eine Familiengeschichte auf zwei Zweitebenen erzählt und einige Menschenschicksale, wie manche Realien aus längst vergangenen Zeiten zeigt und noch einiges mehr, wird er mir eher als ein literarisches Werk im Gedächtnis bleiben.

373 Seiten reinen Textes sind auf 12 Kapitel von 5 bis 44 Seiten, im Durchschnitt aber ca.30 Seiten Länge verteilt. Die Schrift ist recht groß, augenfreundlich, man hat aber auch nicht viel Text auf einer Seite.

Themen wie Altwerden, Alzheimer, Krankwerden und infolgedessen schnell sterben, aber auch das Erwachsenwerden fern von den Eltern, Jugendliebe, Berufswahl, etc. spielen insb. in der ersten Hälfte eine große Rolle. In der zweiten Hälfte kamen aber auch recht überraschend die Themen schwieriges Kinderkriegen, Kleinkindererziehung, problemreiche Vater-Sohn, Mutter-Vater Beziehung(en) hinzu. Das Ganze ist durchwirkt mit dem Thema Beruf vs. Berufung, Tradition vs. Eigensinn. Drei Figuren tauchen immer wieder im Laufe des Romans auf: Eine Figur, die auf ihre Berufung aus Respekt vor Tradition verzichtet, i.e. ihre eigenen Interessen den Interessen der Gemeinschaft untergeordnet hat, am Lebensabend aber versucht, alles Versäumte nachzuholen. Als Kontrastprogramm tritt der Protagonist auf, bei dem seine eigenen Interessen gesiegt haben, Individuum der jüngsten Moderne steht also über den Gemeinschaftsinteressen. Und es gibt noch eine Figur, die sich zwischen diesen Extremen ganz gut einfindet, denn seine Berufung den Erwartungen seiner Familie voll und ganz entspricht. Diese Leben werden detailrech gezeigt, samt den Entbehrungen eines Eismacherlebens: die schwere körperliche Arbeit, die täglichen Herausforderungen auf der Eismacherfront, das Lebensrhythmus von acht Monaten zwölf bis vierzehn Stunden täglich arbeiten, und vier Monate daheim in Italien in einem entlegenen Dorf ausruhen. „Eismacher weinen nicht, sie schwitzen. Sie leiden, sie haben keinen Sommer, sie haben kein Leben.“ S. 247.

Alle Figuren sind wie dem wahren Leben entsprungen. Das sind sie z.T. auch, wie man es dem Nachwort entnimmt. Sie kommen einem sehr real, wie „richtige Menschen“ vor.

Die Gedichte aus aller Welt genießen viel Raum in diesem Roman. Der Protagonist, Giovanni Talamini, einer der beiden Söhne des italienischen Eismachers in der dritten Generation, will kein Eismacher werden, wie die Tradition es verlangt. Als Teenager lernt er einen Mann kennen, der im Eiscafé stets Gedichtbände liest. Er erweist sich als Direktor des World Poetry Festivals. Der Direktor ist recht charismatisch und beschäftigt sich mit dem Jungen. Hier werden einige schöne Gedichte zitiert und nach Meinung des jungen Eismachers gefragt: „Heiman fragte, was ich von dem Gedicht hielt. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war jung, noch nicht einmal aus dem Stimmbruch heraus. Was Hätte ich sagen können? Das ich mein Leben ändern würde? Dass ich mein Herz hundert Frauen öffnen würde, die alle die Liebe meines Lebens sein würden? Oder hatte das Gedicht das schon getan? Was die Tür eines der Zimmer, ohne dass ich es gemerkt hatte, einen kleinen Spalt geöffnet worden? Manchmal glaube ich, dass es so war.“ S. 64.

Über kurz oder lang wird der Direktor sein Mentor, der die Berufswahl des Jungen nachhaltig beeinflusst. Aus Giovanni wird kein Eismacher, zur unverhohlenen Unzufriedenheit seines Vaters. Giovanni geht den Konflikt mit seinem Vater ein: Er studiert Literatur und etabliert sich in seinem Bereich, jettet dann durch die Welt von einem Dichter-Festival zum nächsten. Hier wird schon einiges über Lyrik-Festivals erzählt, über die  Organisation, den Betrieb. Eigene Familie hat Giovanni nicht, es schaut aber auch nicht danach aus, als ob er welche haben wollte. Er versucht, sich aus den Fäden, die ihn mit seiner Familie verbinden, zu lösen, es gelingt ihm aber nicht so recht.

Schön und ungewöhnlich ist auch, dass man Einblicke in das Leben mancher Dichter der Klassik gewinnt: die Eckdaten ihrer Lebensläufe und Schicksale in kurzer, prägnanter Form werden oft in Dialogen vermittelt. Insb. für junge LeserInnen könnte dies von Nutzen sein. Das hat einfach das Zeug, um Interesse zu wecken und nach mehr zu suchen.

Über die Eisherstellung, insb. wie es früher, am Anfang des XX. Jh. üblich war, erfährt man recht ausführlich. Die Infoeinlagen sind doch geschickt eingefügt und nicht zu lang, dafür gibt es davon aber eine Menge.

Der Schreibstil ist sehr gut: mal sehr poetisch, insb. bei den Beschreibungen der Natur, der Schneekristalle, der Empfindungen beim Eisverkosten, etc. Bemerkenswert treffsicher und aussagestark, liest sich gut, angenehm. Die (Sprach-) Bilder stehen klar vorm inneren Auge und laden zum Nachsinnieren ein.

Es gibt auch tiefschürfende Gedanken übers Leben, Liebe und Tod, die sehr gut in die Geschichte hineinpassen und diese aufwerten. „Manche Menschen werden in ihrem Leben immer schöner, ihr Charakter wird von den Jahren verfeinert wie kostbarer Wein, und alles, was lange Zeit in ihnen gereift ist, Gelerntes, Erfahrungen, die großen Ereignisse, all das zusammen hat sich in ein Elixier verwandelt, das vielleicht das Leben nicht verlängert, ihm aber Glanz verleiht. Auch meine Vater hat nichts vergessen, nur haben die Jahre seinen Charakter verdorben.“ S. 14.

Was mich weniger begeistern konnte:

Das Buch insg. konnte mein Leserherz am Endeffekt nicht ganz gewinnen. Der Protagonist blieb mir leider fern, obwohl die Voraussetzungen eigentlich da waren. Trotzdem, dass er sensibel und empathisch ist, konnte die emotionale Nähe nicht aufkommen. Der Funke sprang leider nicht über.

Die Handlung erscheint mir etwas ereignisarm. Der Aufbau ist weniger stringent und geradlinig, entspricht nicht unbedingt dem üblichen Muster. Der Roman kommt mir wie eine Ansammlung von Kurzgeschichten vor, die sich zusammen zum großen Ganzen fügen, aber: Es wird nicht immer chronologisch und logisch erzählt. Man springt gerne mal auch innerhalb eines Kapitels zwischen den Zeiten und Ereignissen. Einfach aufgrund einer Assoziation ist man plötzlich wieder mal in der Kindheit des Protagonisten, da werden einige Bilder, Erinnerungen heraufbeschworen, dann kommt man doch zum Ausgangspunkt wieder zurück, oder auch nicht. Zwischen den Kapiteln wird die Zeit paar Mal ebenfalls gewechselt: von dem Uropa von Giovanni und wie er dazu kam, ein Eismacher zu werden, samt seiner kleinen Liebesgeschichte, die aber sehr prägnant und sinnlich erzählt wurde, zu der heutigen Zeit in Rotterdam, wo die Familie ihr Eiscafé führt. Und: Es ist eher ein offenes Ende.

Manche Klischees hätte ich dort lieber nicht angetroffen. Z.B. Kaum ein junger russischer Poet, schon ist es ein schwermütiger Säufer, der sich früher oder später erhängt. Das Motiv kam paar Mal: da ist einer, da ist eine ganze Gruppe junger talentierter Säufer, die sich nicht zu benehmen wissen. Andere Klischeehafte Motive, wie: Zwei Brüder verlieben sich in ein Mädchen, das später dann einen Bruder heiratet, obwohl sie doch den andern liebt. Die Metapher ein Vogel eingesperrt in einem Käfig. Die Frauen, die eine stützende, aber passive Rolle spielen. Die Frau ist dort meist die Stille, die Wartende, die Mitmacherin, die Leidende.

Manches wiederholte sich, wie die Bilder aus der Kindheit der beiden Brüder, den jungen Jahren ihres Urgroßvaters, der als Erster in der Familie Eismacher wurde. Manches zog sich in die Länge, wie die Hotelstudie in der Mitte, die man hätte auch weglassen können.

Das Thema Sex samt den Szenen, bei denen einem kaum ein anatomisches Detail erspart geblieben war, sowie die sinnlichen Beschreibungen der (Körper-)Stellen, die darauf angespielt hatten, genossen ihre allgegenwärtige Präsenz in der gesamten Länge. Ich konnte mich leider des Eindrucks nicht erwehren, dass das Prinzip sex sells in dieser Geschichte deutlich überstrapaziert wurde.

Fazit: Ein lesenswerter Roman, der mal anders als üblich Geschichten aus der Familie italienischer Eismacher erzählt. Schöner, aussagestarker Schreibstil. Gute Gedankentiefe. Etwas spannungsarme Handlung. Ich vergebe hier vier  Sterne, da der Roman für drei, trotz all den „Schwächen“, einfach zu gut ist.