Rezension

Eine Liebe, fast nur in Gedanken

Eine Liebe, in Gedanken - Kristine Bilkau

Eine Liebe, in Gedanken
von Kristine Bilkau

Bewertet mit 5 Sternen

„Ich möchte an meiner Straße am Fenster sitzen und glauben, dass jeder, der vorbeigeht, ein Leben lebt, glücklich oder unglücklich, aber tief.“
Ein Zitat der finnischen Malerin Helene Schjerfbeck, die im neuen Roman von Kristine Bilkau zwar nur indirekt vorkommt, das Buch aber auf eine besondere Weise begleitet.
Es gibt diese Bücher, die von Anfang an gefangen nehmen, die zur Leserin sprechen, als wären sie für sie geschrieben. „Eine Liebe, in Gedanken“ ist ein solches Buch.
Es erzählt eine Liebesgeschichte, die eine Lebensgeschichte ist, und es erzählt vom Abschied einer Tochter von ihrer Mutter.
Die Erzählsituation ist keine neue. Eine Mutter ist gestorben, die Tochter stößt beim Ausräumen der Wohnung auf Zeugnisse aus deren Leben, Dinge, Briefe, Fotos. Manches vertraut, anderes neu und unbekannt. Es ist ein liebevolles, zärtliches Gedenken. Es gab sicher auch Spannungen zwischen Mutter und Tochter, der freiheitsliebenden, nach zwei Scheidungen alleinerziehenden und immer etwas chaotischen Antonia und der um Beständigkeit bemühten, pragmatischen Tochter, der Ich-Erzählerin. Man kennt das, oft sucht die folgende Generation im Leben das, was sie in frühen Jahren vermisste. (Nur um oft im eigenen Alter zu erkennen, wie sehr man sich doch unter Umständen gleicht.)
„Eine hatte Freiheit gesucht.
Ihre Tochter hatte sich nach Beständigkeit gesehnt.
Und deren Tochter sehnte sich wieder nach Freiheit.“
Nie ein Geheimnis gemacht hat Antonia um Edgar, ihre einst große Liebe. Die Geschichten um ihn waren stets präsent, auch wenn sie bis zuletzt ein Geheimnis umwehte. 
1964 haben sich die beiden kennengelernt, der höfliche, galante Mann und die kesse, in ihrer Zeit moderne Frau. Die frühen Sechziger Jahre waren in vielem eine Übergangszeit, noch herrschte in vielem die Moral der Fünfziger Jahre, verbot die Vermieterin Herrenbesuch und waren die Berufsaussichten für Frauen oft auf Sekretärinnen-, Verkäuferinnen- oder Lehrerinnenniveau eingefroren. Aber die Frauen waren eben auch, zumindest vor der Ehe, berufstätig, zunehmend selbstbewusst und registrierten durchaus die Doppelmoral. Hatten nicht ihre Mütter die Kriegsjahre auch ohne Männer bewältigt? Standen sie nicht den Herren der Schöpfung insgeheim recht kritisch gegenüber, wie beispielsweise auch die Mutter Antonias? Wozu also noch das Deckmäntelchen der fügsamen Weiblichkeit? Andererseits sind die Umbrüche von 1968 und den Jahren danach noch recht weit entfernt, und wie lange sie brauchen und welche Rückschläge immer wieder erfolgen, das spüren wir auch heute noch. 
Antonia und Edgar werden ein Paar, verloben sich, die Familien nehmen den jeweils anderen in ihrer Mitte auf. Toni ist spontan, leidenschaftlich und im Job auf Erfolgskurs. Edgar wiederum steckt beruflich in einer Sackgasse. Als ihm ein Posten in Hongkong angeboten wird, sagt er nach Rücksprache mit Antonia zu. Nach kurzer Eingewöhnungsphase soll sie bald nachkommen. Die Monate vergehen, dann kommt endlich ein Telegramm: Wohnung und Job kündigen, Flugschein folgt. Doch dann: Nichts! Vergeblich wartet Toni, die zunächst bei Freunden, dann bei den Eltern untergekrochen ist, auf Nachricht. Schließlich dann das Niederschmetternde: Edgar möchte lieber doch nicht.
Was diese Zurückweisung für die junge Frau damals bedeutet haben mag, lässt sich nur vermuten und auch die Ich-Erzählerin versucht sich tastend daran, das nachzuempfinden. Vor allem, weil die Liebe zu Edgar nie versiegt zu sein schien. Eine Liebe, aber nur in Gedanken. Zwei folgende Ehen hatten keinen Bestand, vielleicht wollte sich Antonia kein weiteres Mal zu fest binden. 
Die Tochter, altersmäßig vermutlich in den Vierzigern wie die Autorin, hat ihren leiblichen Vater nie groß vermisst, die Trennung ihrer Mutter vom zweiten Mann, der ihr wie ein Vater war, schmerzte mehr. Nun steht sie vor den Zeugnissen des Lebens ihrer Mutter und sinnt darüber nach. Besonders die große Leerstelle, warum die Liebe von Edgar und Antonia letztendlich so unspektakulär scheiterte, bewegt sie. Sie beschließt, Edgar zu kontaktieren.
Sie selbst ist nicht nur in ihrer Trauerarbeit gefangen, sondern befindet sich auch in einer anderen Umbruchsphase ihres Lebens: die 18jährige Tochter Hanna hat das Abitur hinter sich und begibt sich auf Interrailtour, danach Studium, irgendwo. Zeit der Abnabelung. 
„Niemand hatte mich gewarnt, wie schnell ein Kind zu einer Erwachsenen werden würde. Niemand hatte mir gesagt, dass diese Jahre im Rückblick wie eine erstaunlich überschaubare, verwirrend kurze Episode erscheinen würde.“
Zeit, das eigene Leben zu überdenken. Zwischenbilanz. Zeit aber auch, sich vor dem kommenden Alter zu fürchten, vor dem Alleinsein.
Ihre Mutter tröstete sie einst:
„Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte sie zu mir gesagt, mit ihrer jungen, zuversichtlichen Stimme. „Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben.“
War es ein gelungenes Leben? Trotz der Liebe, nur in Gedanken, trotz der Zurückweisung, des Scheiterns? Es scheint so, auch wenn es seinen Preis gekostet haben mag.
„Was für ein Leben hatte Ihre Mutter?“
fragt Edgar bei ihrem Treffen.
„Ich überlegt, wie ich das Leben meiner Mutter zusammenfassen konnte. Ich hatte versucht, mir vorzustellen, wer sie als junge frau gewesen war, wer sie geworden war, doch es konnte ja immer nur ein Ausschnitt bleiben, Geschichten, von mir erdacht. Wie nah ich der Frau von damals und der Frau, die sie geworden war, hatte kommen können, das würde ich nie wissen. (…) „Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie sich nicht vor Intensität gefürchtet hat. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich selbst.“
Eine Frau, die auch einen hohen Preis für ihr unabhängiges Leben zahlen musste, begleitet das Buch auf besondere Weise. Es ist die finnische Malerin Helene Schjerfbeck. Die Ich-Erzählerin betreut während der Trauerzeit als Architektin eine Ausstellung der 1862 geborenen Künstlerin. Durch einen Unfall in der Kindheit gehbehindert, tritt deren künstlerisches Talent früh zutage. Begabt und entschlossen reist sie in jungen Jahren viel, erleidet aber auch viel persönliches Leid, ist viel krank und lebt viele Jahre allein mit ihrer pflegebedürftigen Mutter. Hochbetagt stirbt sie kurz nach dem Krieg. Die unabhängige, letztlich aber einsame Frau dient als Spiegel für das Leben der Mutter, ihre Zurückgezogenheit im Alter. Am Ende des Buchs nimmt uns die Erzählerin mit auf einen Rundgang durch die Ausstellung, die auch sehr durch Selbstbildnisse der Malerin geprägt ist. Immer wieder schweift sie zwischen den Bildern und den Gedanken an die verstorbene Mutter. Dieser Abschnitt ist mit das Schönste, das ich seit längerem gelesen habe.
„Eine Liebe in Gedanken“ ist ein Buch, dessen Passagen ich immer wieder lesen möchte. So einfühlsam, pathos- und kitschfrei, so behutsam, klug und fast schwebend, so atmosphärisch dicht schreibt Kristine Bilkau über Frauenleben, Liebe, Nähe, Enttäuschung, Trauer, Abschied. Über das Verschwinden von Menschen, sei es nach Hongkong, in den Tod oder auch nur das Erwachsensein, und das Fortbestehen der Liebe.
„Meine Mutter sitzt vor mir auf der Küchenbank, sie bestreicht sich ein Stück Baguette mit zerschmolzenem Camembert, sie sitzt, wie immer, wenn sie uns besuchte, auf dieser alten Holzbank, die Florian und ich, als Studenten, vor über zwanzig Jahren auf einer Reise durch Polen gekauft hatten, sie nippt an ihrem Darjeeling und will alles über ihren eigenen Tod wissen.“