Rezension

Eine sehr zähe Frage der Ehre

Intrige - Robert Harris

Intrige
von Robert Harris

Bewertet mit 3 Sternen

Inhalt:

Robert Harris widmet sich in diesem Roman einem realen historischen Ereignis in Frankreich an der Schwelle des 20. Jahrhunderts: der „Dreyfus-Affäre“. Darunter versteht man die irrtümliche Verhaftung und Verurteilung des französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus durch ein Pariser Kriegsgericht. Dreyfus wurde vorgeworfen, er spioniere für Deutschland, dem damaligen Erzfeind.

Der Roman erzählt die Ereignisse von der Verhaftung Dreyfus‘ 1894 bis zu dessen Rehabilitation1906  aus der Perspektive von Marie-Georges Picquart, einem Angehörigen des französischen Militärs, der in alle Phasen der Affäre involviert war: Zunächst war er an der Suche nach dem vermeintlichen Spion im französischen Generalstab beteiligt, später Prozess-Beobachter und schließlich derjenige, der als Leiter des Geheimdienstes der französischen Armee den Justizirrtum aufklärte und dabei massivem Druck seiner Vorgesetzten entgegentreten musste.

Mein Leseeindruck:

1. Die Romanhandlung und ihre Figuren:

Ein Sachbuch muss sich an belegbare Fakten halten, ein Roman darf spekulieren, fabulieren, ausschmücken und fantasieren. Das gilt auch für den historischen Roman, sofern er die geschichtlichen Zusammenhänge dabei nicht völlig verzerrt – und hier liegt meiner Meinung nach gerade die Stärke des historischen Romans: Einblicke in historische Persönlichkeiten und Zusammenhänge zu geben, die nicht mit Quellenmaterial belegt, aber vermutet werden können. Dies habe ich auch von diesem „historischen Thriller“ erwartet und bin dabei leider sehr enttäuscht worden.

Robert Harris bleibt sehr nah am Faktischen und Belegbaren. Dadurch wird der Roman aber zäh und bietet nur geringe Einblicke in das Innenleben der beteiligten Figuren. Die Akteure aus Politik und Militär im Fall Dreyfus und ihre Motive werden von Harris fast schon holzschnittartig dargestellt: Auf der einen Seite die Vorgesetzten, die alles daransetzen ihre Macht zu erhalten. Ihnen zur Seite stehen Untergebene, die ohne Skrupel jegliche Befehle ausführen und die Verantwortung dafür von sich und an ihre Vorgesetzten verweisen. Auf der anderen Seite – im Wesentlichen als Einzelkämpfer – Picquart, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlt.

Sehr kurz – mir zu kurz – kommt in diesem Roman die Frage des Antisemitismus. Dazu muss man wissen: Dreyfus war Jude. Er war der erste und einzige Jude, der – aufgrund seines Abschlusses der Pariser Militärhochschule als einer der Jahrgangsbesten – im betreffenden Zeitraum eine Ausbildung beim Generalstab der französischen Armee machen durfte. Dass gerade er in den Fokus gerät, als nach einem Spion im Generalstab gesucht wird, lässt durchaus das Vorliegen von Vorurteilen vermuten. Aber bei Harris erscheint zwar die französische Zivilgesellschaft in großen Teilen als sehr antisemitisch, nicht jedoch das Militär. Warum die Armee allerdings wesentlich weniger vorurteilsbehaftet gewesen sein sollte als die sonstige Bevölkerung, erschließt sich mir nicht und geht auch nicht aus dem Roman hervor.

Letztlich reduziert sich die Dreyfus-Affäre bei Harris in erster Linie auf eine Frage der Ehre. Der Ehrbegriff ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Handlung zieht: Die Armee versucht, ihre Fehler zu vertuschen, damit die Ehre des Militärs nicht beschmutzt wird. Picquart dagegen will die Ehre der Armee durch Aufklärung und Offenheit schützen und seine eigene wiederherstellen. Und auch an vielen weiteren Stellen und in vielen weiteren Handlungen wird der Ehr-Begriff herangezogen (z. B. zu Beginn des Romans bei der öffentlichen Degradierung und damit Entehrung Dreyfus‘, später bei einem Duell, usw.).

Aus heutiger Sicht durchaus interessant fand ich allerdings die Einblicke in die Geheimdienstarbeit vor 100 Jahren, die der Roman bietet. Gerade vor dem aktuellen politischen Geschehen der letzten Monate (NSA) sind die damaligen Methoden sehr amüsant.

2. Die Druckfehler:

Sehr ärgerlich fand ich die immer wieder auftauchenden Druckfehler. Zwar sind mir „nur“ 6 ins Auge gesprungen – bei mehr als 600 Seiten scheint das auf den ersten Blick, noch eine recht geringe Fehlerquote zu sein. Allerdings sind das nur die Fehler, die so auffällig waren, dass sie mich im Lesefluss gestört haben. Sehr wahrscheinlich enthält das Buch also noch weitere Fehler, da ich bestimmt einige einfach überlesen habe. Gerade bei den heutigen, doch inzwischen recht hohen Buchpreisen, finde ich, kann der Käufer aber mehr Sorgfalt erwarten.

3. Ein kurzer Kommentar zu meiner Bewertung:

Der Roman hat trotz seiner Mängel von mir drei Sterne bekommen. Warum?

Weil ich das Thema des Romans immer noch wichtig und interessant finde. Er beschreibt DAS Ereignis, das am Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts die französische Zivilgesellschaft und Militär und Politik nachhaltig erschüttert hat und weitreichende Auswirkungen hatte. Und wer sich mit Harris Herangehensweise und seinem Schreibstil anfreunden kann, findet einen guten Einstieg in das Thema.

Mir selber hat das Lesen allerdings keine Freude gemacht, weil ich den ganzen Romanaufbau zu zäh fand und mir tiefere Einblicke in die Figuren fehlten. Ich hätte das Buch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu Ende gelesen, wenn ich nicht an einer Leserunde dazu teilgenommen hätte.

Meine Leseempfehlung:

Für Harris-Fans und für Leser, die nüchtern-faktische Geheimdienst-Erzählungen mögen