Rezension

Eine wunderbare Komposition von Inhalten und Erzählstilen

Der Wolkenatlas - David Mitchell

Der Wolkenatlas
von David Mitchell

Zum Inhalt: David Mitchells Roman „Der Wolkenatlas“ ist eine Komposition aus sechs eigenständigen Kurzgeschichten, sechs Schicksalen, die in sechs unterschiedlichen Epochen der Menschheitsgeschichte spielen. Die Lebensumstände der Protagonisten könnte unterschiedlicher nicht sein – ein amerikanischer Notar, der um das Jahr 1850 herum auf einer Schiffsreise durch Ozeanien Schiffsbruch erleidet, ein junger englischer Musiker, der 1931 vor seinen Gläubigern in seiner Heimat flieht und sich bei als Assistent eines berühmten Komponisten in Belgien verdingt, eine junge Journalistin, die im Jahr 1975 die unlauteren Machenschaften eines Energiekonzerns, der Missstände an einem Atomreaktor-Projekt vertuschen will, aufzudecken versucht, ein britischer Verleger, der nach der Jahrtausend-Wende das einzige erfolgreiche Buch seiner Laufbahn verlegt und sich unversehens als Insasse eines Altersheims wiederfindet, ein Klon in einem vereinten Korea einer hochtechnologisierten Zukunft, welcher von der „Reinblüter“-Klasse als billige Arbeitskraft gezüchtet wurde und plötzlich menschliche Züge in sich verspürt und schließlich ein junger Mann, der in einer noch ferneren Zukunft, nach dem Kollaps der menschlichen Zivilisation, als Angehöriger eines einfachen Stamms, umgeben von Barbaren ein Leben fernab jeglicher technischer Errungenschaft führt. Dennoch sind die Leben dieser Personen in den unterschiedlichen Zeitebenen alle miteinander verbunden…

Eigene Meinung: Der Einstieg in den „Wolkenatlas“ ist mir nicht leicht gefallen. Jede der sechs Einzelschicksale stellt eine in sich abgeschlossene Geschichte dar, die in ihrem eigenen, sehr charakteristischen Erzählstil geschrieben ist. Die ersten beiden Episoden „lagen“ mir dabei einfach nicht so – weder vom Erzählstil her, noch von der Handlung. Erst als ich ab dem dritten Teil mehr und mehr die Idee des Buches erkannte – auf unterschiedlichen Zeitebenen miteinander verbundene Personen, deren Schicksale zwar im Hier und Jetzt abgeschlossen sind, die sich aber dennoch in späteren Zeitebenen wieder finden, konnte mich das Buch mehr und mehr in seinen Bann ziehen. Die späteren Kapitel, insbesondere jene, die in der Zukunft spielen, haben mir dann auch deutlich besser gefallen und mich schließlich kaum mehr losgelassen. Mitchell schildert eine detailliert ersonnene Zukunft, die bizarr und in ihrer Unmenschlichkeit bedrückend ist  (allem voran der Umgang der „Supraklasse“ mir den Menschen der Subschicht), die aber gleichzeitig als gar nicht so unwahrscheinlich erscheint, da man viele Parallelen von heute bereits stattfindenden Entwicklungen erkennen oder erahnen kann. Auch die Zeitebene nach dem Untergang der menschlichen Zivilisation hat mich sehr beeindruckt – der technische Fortschritt, der in den Kapitel davor bis zur Perversion übertrieben wurde, spielt in der darauf folgenden Zukunft keine Rolle mehr, die wenigen noch verbliebenen Menschen sind zu einem sehr urtümlichen und archaischen Leben zurückgekehrt und nur eine kleine Gruppe von Menschen konnte einen gewissen technischen Fortschritt erhalten. Die engmaschig erzählte Handlung, die vielen Verstrickungen der Handlungsstränge auf unterschiedlichen Ebenen und die vielen, z.T. fremdartigen Details haben dazu geführt, dass ich das Buch nur sehr langsam lesen konnte, immer wieder zurück geblättert habe, das Buch dabei aber umso mehr genossen habe.

Auch sprachlich und konzeptionell ist das Buch ein Meisterwerk. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Komposition – so geschickt sind Figuren und Handlungsstränge über die unterschiedlichen Zeitebenen miteinander verknüpft, was sich zum Teil nur in kleinen und geschickt eingefügten Details andeutet.  Auch sprachlich reizt  Mitchell die ganze Palette der Erzählkunst aus – so bedient er sich der Tagebuchform, der Briefform, wählt einen Er- Erzähler sowie eine Sie-Erzählerin, erzählt in der Interviewform und lässt auch den klassischen Geschichten-Erzähler zu Wort kommen. Den unterschiedlichen Protagonisten legt er ihrer Zeit entsprechend die passende Sprache in den Mund, wobei er insbesondere für die beiden in der Zukunft spielenden Handlungsstränge eine beeindruckend detaillierte und glaubwürdige Ausdrucksweise ersonnen hat. Vor dieser grandiosen Erzählleistung kann man nur seinen Hut ziehen.

Einen Stern Abzug gibt es daher nur für die Tatsache, dass nicht alle der aufgeführten Handlungsstränge vollständig mein Interesse wecken konnten, aber bis auf dieses kleine Detail bin ich sehr begeistert von Mitchells komplexen und in dieser Art für mich beispiellosem Werk!