Rezension

Eine zarte Liebe im Wettlauf gegen das Glas...

Das Mädchen mit den gläsernen Füßen - Ali Shaw

Das Mädchen mit den gläsernen Füßen
von Ali Shaw

*Worum geht's?*
Midas sieht die Welt nur durch sein drittes Auge: seine Kamera. Der scheue, junge Mann meidet Gesellschaft, wo er nur kann, und zieht es vor, allein zu sein. Lieber fotografiert er und versucht, auf seinen Bildern die Welt so einzufangen, wie sie wirklich ist. Bis er eines Tages auf Ida trifft, ein Mädchen, das etwas ganz besonderes an sich hat, was noch nicht einmal die Fotos einfangen können. Erst als die beiden sich näher kommen, erfährt Midas von ihrem Geheimnis: Sie verwandelt sich von den Füßen aufwärts zu Glas! Zusammen suchen sie nach einer Lösung, um Ida zu retten. Auf St. Hauda's Land, einer Insel voller Geheimnisse und Mythen, finden sie erste Anhaltspunkte - und zugleich bedrückende Wahrheiten über das Glas, über das Leben und über sich selbst.

*Kaufgrund:*
Das Cover hat mich magisch angezogen, es war wie die berühmte Liebe auf den ersten Blick! Der Klappentext und die vielen positiven Bewertungen, die das Buch schon bekommen hatte, taten ihren Rest.

*Meine Meinung:*
Drei lange Tage musste ich das Buch ruhen und wirken lassen, nachdem ich es ausgelesen hatte. Drei lange Tage, in denen es mir trotz größter Mühe nicht möglich war, meine Gedanken zu dem "Mädchen mit den gläsernen Füßen" in Worte zu fassen. Zu Tief hat mich die Geschichte berührt, zu stark hat die Atmosphäre auf mich gewirkt. Wer eine seichte Romanze für Zwischendurch sucht, ist hier definitiv an der falschen Stelle. "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" ist ein besonderer Roman mit unglaublicher Tiefe, der jeden seiner Leser sprachlos und aufgewühlt, vielleicht sogar mit Tränen in den Augen, zurücklassen wird.

Ali Shaws Debüt spielt auf St. Hauda's Land, einer kleinen, persönlichen Insel, auf der jeder Bewohner jeden kennt - oder zumindest glaubt, es zu tun. Die winzige Touristeninsel mag auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Erholungsort wirken, doch der Schein trügt - und das nicht zu knapp! Auf St. Hauda's Land leben viele mystische Wesen, an die sich kaum ein Bewohner mehr erinnern mag. Längst sind sie zu Mythen und Legenden geworden, zu Wesen, die nur in Märchen Erwähnung finden. Kleine geflügelte Rinder, die mehr an Insekten erinnern als an Kühe, ein Tier, das mit einem Blick alles weiß werden lässt - mit diesen phantastischen Geschöpfen sind Ali Shaw fantastische Wesen gelungen, durch die man das Herzblut des Autors pulsieren spüren kann. Ali Shaw hat nur solch kleine Fantasy-Elemente eingebaut, doch der Effekt, den sie auf die Leseatmosphäre ausüben, ist enorm. Die realistische Verknüpfung der echten Welt mit diesen sagenhaften Wesen ist so perfekt gelungen, dass man später gar nicht mehr an der Existenz von geflügelten Rindern zweifeln will! Einen Fantasy-Roman sollte man hinter dem "Mädchen mit den gläsernen Füßen" jedoch nicht erwarten; es ist eher wie ein modernes Märchen.

"Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" könnte man dank Shaws Hang zu Metaphern durchaus für eine solche halten - falsch gedacht! In seinem Debüt geht es um Ida, ein Mädchen mit einer seltsamen Krankheit: Sie verwandelt sich von den Füßen an langsam zu leblosem, kaltem Glas. Erst allein, später zusammen mit ihren engsten Vertrauten, sucht sie auf St. Hauda's Land - dem Ort, an dem alles begann - nach einer Heilungsmethode. Ja, Shaw ist es tatsächlich gelungen, 400 Seiten mit dieser Geschichte zu füllen, ohne langatmig zu werden. Spannung, die mitreißt und uns zum Weiterlesen zwingt, gibt es von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist jedoch nicht die nervenaufreibende Sorte, sondern die gefühlvolle Variante, die unser Herz zum Mitfiebern verleitet. Haltet eure Taschentücher bereit!

Nicht selten sind die Momente in "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" so deprimierend, dass man eine Lesepause einlegen muss. Die kalte, melancholische Stimmung sticht wie ein eisiger Dorn mitten ins Herz, zwingt uns beinahe zum Mitfühlen und -leiden. Vor allem gelingt es ihm sogar, uns zum Nachdenken zu bewegen, uns selbst zu reflektieren, unsere Denkweisen über unsere Mitmenschen, das Leben und die Liebe eingehender zu betrachten. Ali Shaw schafft es, uns mit seiner Geschichte genau dort zu berühren, wo wir am empfindlichsten sind: Mitten in der Seele.

Die beiden Hauptfiguren könnten nicht verschiedener sein. Auch wenn es heißt, Gegensätze würden sich anziehen, so glaubt man doch selten daran, dass solche Beziehungen tatsächlich funktionieren. Nicht anders erging es mir bei Midas und Ida. Zu Beginn konnte ich mir kaum vorstellen, dass die beiden zueinander finden würden. Doch je näher sie sich kamen, desto deutlicher wurde, dass das altbekannte Sprichwort diesmal recht behalten sollte. Zusammen sind Ida und Midas wie zwei Teile eines Ganzen; sie passen selbst im kleinsten Detail zueinander. Durch ihre unterschiedlichen Charaktere geben sie den anderem jeweils das, was ihm fehlt: Die extrovertierte Ida hilft dem verklemmten, menschenscheuen und verbitterten Midas aus seinem Schneckenhaus, während er ihr die Ruhe und Geborgenheit gibt, die sie so dringend sucht. Er ist ihr Fels in der Brandung.

Obwohl Shaw sich auf Ida und Midas konzentriert, gibt es in seinem Debütroman keine Charaktere, die man leicht als Nebenfiguren bezeichnen könnte. Jeder von ihnen spielt eine entscheidende Rolle für den Handlungsverlauf; selbst diejenigen unter ihnen, die längst verstorben sind. Durch geschickte Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart bringt uns Shaw die Toten näher, sodass die Konsequenzen ihrer Taten zu Lebzeiten deutlicher werden. Besonders bei Midas Vater sich diese Rückblenden interessante, wenn auch schockierende Szenen, die uns helfen, die Geschichte besser zu verstehen. Aber nicht nur Midas Senior hat wichtige Dinge zu der Gegenwart beigetragen. Egal, ob Idas Mutter, der mysteriöse Henry Fuwa, Carl oder Midas bester Freund - jeder wurde durch ein verstörendes, traumatisierendes Erlebnis in der Vergangenheit zu dem gemacht, was er nun ist: Ein kaputter Mensch, der erst wieder lernen muss, zu leben. Mit jedem Kapitel entwickeln sich die Charaktere weiter, sie stellen sich ihrer Vergangenheit und finden neuen Mut. Denen einen gelingt es, den anderen nicht...

Bisher habe ich von allem nur schwärmen können. Ob Handlung, Charaktere oder die Atmosphäre - alles kann begeistern. Dabei habe ich das Highlight noch nicht einmal erwähnt! Ali Shaws außergewöhnlicher, distanzierter und zugleich eindringlicher Schreibstil ist es, der "Das Mädchen mit den gläsernen Füßen" zu einem hervorragenden Buch macht. Mit seiner Liebe zum Detail und seinen traumhaften Metaphern erzeugt er nicht nur ein großartiges Kopfkino, er bringt uns sogar dazu, uns völlig in seiner Welt zu verlieren. Durch seine kühle Sprache kann man das verschneite St. Hauda's Land um sich herum spüren, als stünde man selbst auf der Insel. Mummelt euch in eine kuschelige Decke, bevor ihr dieses Buch lest und Ali Shaw Schneeflocken auf euch hinabrieseln lässt. Denn habt ihr diesen Roman erst einmal in der Hand, wird euch Shaw nicht mehr loslassen!

*Cover:*
Ich fange noch immer an zu schwärmen, wenn ich das Cover sehe. Es ist wunderhübsch gestaltet! Diese Farben, diese Verzierungen, diese Silhouetten und die kühle Atmosphäre... Alles passt perfekt zusammen - und sogar zum Inhalt zwischen den Buchdeckeln! Ich bin begeistert!

*Fazit:*
Mit seinem Debüt ist Ali Shaw ein Meisterwerk fernab vom Mainstream gelungen. Atemberaubende Charaktere, eine märchenhafte Atmosphäre, eine berührende Geschichte - kurzum: ein grandioses Buch! Für dieses absolute Must-Read kann ich nicht anders, als die volle Sternenzahl zu vergeben!