Rezension

Eine (zu?) ruhige Fortsetzung

Cassia & Ky 02. Die Flucht - Ally Condie

Cassia & Ky 02. Die Flucht
von Ally Condie

*Worum geht's?*
Drei Monate sind vergangen, seit Ky vor Cassias Augen abtransportiert und in die äußeren Provinzen verlagert wurde - als Kanonenfutter für die Gegner der Gesellschaft. Dort kämpft er mit anderen Aberrationen um sein Leben. Die Gesellschaft behauptet zwar, dass jeder von ihnen zurückkommen darf, wenn sie ihre Arbeit in den Lagern verrichtet haben, aber Ky ist klar, dass man nur ein abgekartetes Spiel mit ihnen spielt. Denn niemand überlebt in den äußeren Provinzen lang genug, um jemals zurückzukehren. Ihm bleibt nur noch eine Chance: Wenn er Cassia jemals wiedersehen will, muss er fliehen. Während Ky seinen Plan schmiedet, bereitet auch Cassia ihre Flucht vor. Nach den Vorfällen in der Gesellschaft wurde ihre Familie in eine andere Provinz und sie selbst in ein Arbeitslager geschickt. Bald soll sie zurück in die Gesellschaft gebracht werden, um ihren vom System auserwählten Partner Xander zu heiraten und ein geregeltes, ordentliches Leben zu führen. Aber Cassia denkt nicht einmal im Traum daran! Sie will Ky finden, ihre große Liebe, und flieht in die äußeren Provinzen, in die Canyons, in denen die Gegner der Gesellschaft noch die kleinste Gefahr sind...

*Kaufgrund:*
"Die Auswahl" ist eines meiner absoluten Lesehighlights aus dem Jahr 2011. Kaum ein Roman hat mich in diesem Jahr so fasziniert und begeistert. Da ich um jeden Preis wissen wollte, wie es mit Cassia und Ky weitergeht, musste "Die Flucht" also unbedingt her!

*Meine Meinung:*
"Die Flucht" überrascht mit einem extremen Ortswechsel. Während man im ersten Band die moderne und hochtechnisierte Gesellschaft kennengelernt hat, in der die "normalen" Bürger leben, lernt man nun den Lebensraum der Aberrationen kennen: die äußeren Provinzen. In einer kargen Wüstengegend, einer trockenen Einöde, in der niemand auf Dauer überleben könnte, müssen sie sich zugrunde richten. Die Gesellschaft missbraucht sie auf grausame Weise als Lockvögel, damit die Feinde des Systems die äußeren Provinzen noch immer als bewohnbares Gebiet halten...

Auch Cassia, die ihren Status als Bürgerin behalten hat, muss die unangenehmen Gebiete der Gesellschaft betreten und die schlechten Lebensbedingungen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Nachdem ihre Familie nach den Ereignissen aus "Die Auswahl" an einen anderen Wohnort, in eine andere Provinz verfrachtet wurden, wird Cassia von der Gesellschaft in ein Arbeitslager geschickt, in welchem sie mit Mädchen zusammenarbeiten muss, die als Anomalien und Aberrationen gekennzeichnet wurden. Dort sind die Lebensumstände kaum besser als in Kys Einöde.

Ally Condie verzichtet zu Beginn des zweiten Bandes auf eine Wiederholungsphase oder einen kurzen Rückblick der Charaktere. Die Geschichte wird nach einer langen Unterbrechung von drei Monaten schlicht weitererzählt. Man sollte die Ereignissen und die verschiedenen Figuren der Buchreihe also noch gut im Kopf haben oder sein Gedächtnis selbst auffrischen, indem man in "Die Auswahl" blättert, bevor man mit "Die Flucht" beginnt, um einen problemlosen Anschluss an den zweiten Band zu finden. Besonders bei einer längeren Lesepause kann ich dies nur dringend empfehlen!

"Die Flucht" schlägt eine ganz andere Richtung ein als der Trilogieauftakt "Die Auswahl". Zeichnete sich der erste Band vor allem durch seine ruhigen und emotionalen Momente aus, lebt die Fortsetzung vor allem von seiner tristen Melancholie. Während "Die Auswahl" noch sehr kühl, zum Teil sogar steril war, wird es in "Die Flucht" auf eine sonderliche, beinahe gefühllose Art grausam. Diesmal kommen Menschen nicht bloß auf geplante Weise durch ein Gift ums Leben, sondern werden mutwillig geopfert, ermordet und hingerichtet. Mit dem extremen Ortswechsel von einer geregelten und scheinbar perfekten Provinz in eine gefährliche und auf Dauer unbewohnbare Einöde ändert sich auch die gesamte Atmosphäre, der Blick der Leser auf die Welt. "Die Flucht" schafft einen ganz neuen Teil der Geschichte und zeigt die Kehrseite der Gesellschaft, die kaum noch etwas mit dem Part aus "Die Auswahl" gemein hat.

Im zweiten Teil legt die Autorin viel mehr Wert auf das "Wieso? Weshalb? Warum?" ihrer Geschichte. Eine mitreißende Spannung, wie man sie aus anderen Dystopien kennt, findet man hier nicht und es gibt auch keine wilden Schießereien oder zügellose Schlägereien. Insgesamt hätten der Handlung von "Die Flucht" ein paar aufwühlende Momente sicher gut getan, aber langweilig ist dieses Buch deshalb noch lange nicht. Ally Condie vermittelt in ihrem Mittelteil der Trilogie Unmengen von Informationen, die ihre grausige Zukunftsidee näher erläutern. Wie ist es zu der Gesellschaft gekommen? Was läuft im Verborgenen des Systems tatsächlich ab? Auch die Hintergrundgeschichten der verschiedenen Charaktere werden intensiv thematisiert. Ally Condie braucht keine aufregenden Verfolgungsjagden, um ihre Leser in ihren Bann zu ziehen. Man möchte mehr von der Dystopie, in der die Figuren leben, erfahren und muss allein deshalb weiterlesen, weil man um jeden Preis erfahren will, wie es mit ihnen weitergeht. Es ist eine "ruhige Spannung", die "Die Flucht" zu einem Pageturner macht.

Diesmal wird die Geschichte auch aus Kys Sicht erzählt. Während sich Ally Condie im ersten Band vollkommen auf Cassia konzentrierte und die Handlung nur aus ihrer Sicht der Dinge schilderte, darf man sich nun darüber freuen, auch einen Blick in Kys Gedanken und Gefühle werfen zu dürfen. Kapitel für Kapitel wird zwischen den zwei liebenden Protagonisten gewechselt, die ihre Handlungsstränge getrennt voneinander weitererzählen. Als großer Ky-Fan habe ich mich sehr darüber gefreut, dass die Autorin ihrem männlichen Hauptcharakter diese Möglichkeit gibt. Ky ist mir nach "Die Auswahl" als geheimnisvoller, ruhiger und zurückgezogener Mann im Gedächtnis geblieben, der voller Emotionen steckt, die er allerdings nur in Cassias Gegenwart zeigen durfte. Ich hätte alles dafür gegeben, um mehr von ihm erfahren zu dürfen, und in "Die Flucht" erhält man endlich die Chance, Ky näher kennenzulernen. Condie hat Kys Gedankengänge perfekt getroffen und ist seinem Charakter mit der neuen Perspektive treu geblieben.

Wie eben erwähnt, bleibt uns auch Cassia als Erzählerin erhalten. Doch von der Cassia, wie man sie zu Beginn von "Die Auswahl" kennenlernte, ist kaum noch etwas übrig geblieben. Aus dem jungen Mädchen, das zwischen einem geregelten und einem freien Leben hin- und hergerissen war, ist eine mutige und tapfere Rebellin geworden, die die strenge Ordnung der Gesellschaft nur noch als beengenden Käfig sieht. Schon im ersten Buch der Trilogie hätte sie alles für die Menschen getan, die sie liebt, aber nun beweist sie auch, dass es nicht nur leere Worte waren. Sie setzt alles aufs Spiel, sogar ihr eigenes Leben, um Ky zu finden, und beweist damit eine beeindruckende Charakterstärke, die ihr eine andere Protagonistin erst einmal nachmachen muss. Trotz ihrer neu entdeckten kämpferischen Ader schlummert in Cassia weiterhin eine Poetin, die ihr Herz an die Kunst verloren hat.

Auch im zweiten Teil nimmt die Kunst einen großen Teil im Leben der Protagonisten ein, allen voran die Gedichte, die Cassia von ihre Großvater bekommen hat. Begleiteten sie im ersten Band vor allem die emotionalen Momente der Handlung, tragen sie nun viel bedeutungsvollere Rollen und regen dazu an, mit Cassia und Ky zwischen den Zeilen zu lesen. Ally Condie hat den zwei poetischen Texten wichtige Funktionen im Handlungsverlauf zugeteilt und sie großartig in die Geschichte einfließen lassen. Die Gedichte sorgen in dem Roman für eine ganz besondere Leseatmosphäre, für eine intensive Stimmung, von der man sich gerne mitreißen lässt.

Auf den ersten Seiten findet man eine gezeichnete Karte über die äußeren Provinzen, die die Orte aufzeigt, an denen Cassia und Ky in diesem Band ihre Abenteuer erleben. Ein tolles Extra, das nicht nur schön anzusehen ist, sondern auch dabei hilft, sich die abgeschiedenen Provinzen besser vorstellen zu können. Auch sonst muss man den Grafikern, die sich um das Layout des Romans gekümmert haben, ein großes Lob aussprechen. Zu Beginn eines jeden Kapitels ist Cassia, wie sie auch auf dem Cover zu sehen ist, abgedruckt. Sogar die verschiedenen Abschnitte der Kapitel werden durch ein wichtiges Artefakt der Handlung voneinander getrennt. Diese kleinen, aber feinen Extras machen "Die Flucht" nicht nur zu einem Lese-, sondern auch zu einem Augenschmaus.

*Cover:*
Das Cover ist genauso wie das des ersten Bandes ein echter Hingucker und passt super zum Roman! Diesmal bricht Cassia aus ihrer schützenden Kugel aus und beginnt, ihren eigenen Weg zu gehen - fernab der Gesellschaft, nur ihr eigenes Ziel vor Augen.

*Fazit:*
"Die Flucht" ist ein schwieriger zweiter Band der "Cassia & Ky"-Trilogie, an dem sich die Geister scheiden. Der Roman schlägt eine völlig andere Richtung ein als "Die Auswahl" und kann damit nicht jeden Fan überzeugen, der sich so sehr auf eine Geschichte wie aus dem ersten Teil gewünscht hat. Mich hat der extreme Wechsel jedoch begeistern können. Ein anderes Setting, neue Charaktere, ein bisher ungeachteter Blickwinkel auf die Gesellschaft und die Gefühle zwischen Cassia und Ky haben mich völlig in ihren Bann gezogen. Nichtsdestotrotz muss ich zugeben, dass "Die Flucht" mir insgesamt nicht so gut gefallen hat wie sein großartiger Vorgänger. "Die Auswahl" bleibt unübertroffen! Ich vergebe 4 Sterne.