Rezension

"einen Fuß drin und einen draußen"

Heute leben wir - Emmanuelle Pirotte

Heute leben wir
von Emmanuelle Pirotte

Bewertet mit 2 Sternen

„einen Fuß drin und einen draußen“
Zitat von S. 131

Mann begegnet Kind, beide Einzelgänger, desillusioniert, es entsteht eine wechselseitige Anziehung. Es ist die Zeit der Ardennenoffensive: Der Mann ist Matthias, 35, SS-Tätowierung, ein Soldat im „Unternehmen Greif“; in Feinduniform agiert er als Spion für Hitlers Otto Skorzeny hinter den feindlichen Linien. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Skorzeny
In US-Uniform verkleidet, treffen er und sein Kamerad auf ein kleines Mädchen, den vermeintlichen Rettern anvertraut vom Pfarrer, einer ihrer vielen Zwischenstationen, weil sie Jüdin ist, vermutlich sieben Jahre alt, Renée. Statt sie wie geplant zu erschießen, erschießt der Soldat den Kameraden – weil sie ihn ansieht, weil sie Schnee gegessen hat, weil…er weiß es selbst nicht so genau. Wenn sie da ist, kann er schlafen: „…die seinen Schlaf bewacht und ihm etwas verschafft, was er nie erlebt hat und nicht begreifen kann. Es ist noch zu konfus, in seinem Geist wie in seinem Körper. Es ist konfus, aber da, es existiert und erfüllt ihn nach und nach mit einer Art stiller Freude.“ S. 30

Soweit hatte ich mich richtig auf dieses Buch gefreut und mir viel versprochen, empfand das Buch aber in weiten Teilen als ziemlich trivial; bewegend nur in den Teilen, in denen ich das Naive, Klischeehafte zu ignorieren vermochte. Das beginnt damit, dass Renées Fähigkeiten nicht nur sehr mystisch überhöht werden, die Beschreibung wiederholt sich auch noch ständig im Tenor von: „Matthias stand in der Tür. Er beobachtete das Kind, völlig vertieft in das, was es gerade tat, unbekümmert, wie es schien, um alles Übrige. Dabei konnte sie so aufmerksam für ihre Umgebung sein, so umsichtig. Sie hatte eine unerhörte Fähigkeit, Dinge vorauszusehen, wie Matthias sie bisher nur bei den Indianern gefunden hatte.“ S. 39 (mystische Indianer, natürlich). Ich hätte das hier gerne zarter gemocht, nur die Beschreibungen von Renées auf der Flucht geschulter Intuition, ohne dass die Autorin gleich das Schild „Achtung, das hier ist Intuition“ daneben setzt.

Ähnliches folgt für Matthias, dessen Einschätzungen zur jeweiligen Lage gerne in eine universelle Gesellschaftstheorie münden, so zum „echten“ US-Soldaten Dan: Matthias kannte das alles auswendig, immer dieselben Früchte des Zorns bei Typen wie dem. Und sowieso war dieser Dan die Selbstgefälligkeit des konformistischen Amerika in Person. Einer von der Sorte, die sich im Bus nicht neben einen Schwarzen setzten, die fanden, dass Massaker an den Indianern durchaus deren armseliges Stückchen Land wert seien, sich aber für den bewaffneten Arm der Gerechtigkeit und der Freiheit hielten, die Inkarnation des Guten.“ S. 93 (ja, Früchte des Zorns konnte Matthias 1944 gekannt haben – aber war eine derart differenzierte USA-Kritik zu der Zeit wirklich gängig, immerhin hatte Matthias selbst nur eher isoliert für kürzere Zeit in Kanada gelebt).

Es soll wohl darum gehen, welchen Wandel, welche Läuterung wir als Leser einem der Täter der NS-Zeit zugestehen, inwiefern wir Verzeihen erlauben, wie wir Schuld werten, auch und gerade bei jemanden, der sich der Ideologie eher nicht zugehörig fühlt, aber gerne die Möglichkeiten für Aufstieg und „Abenteuer“ nutzt, wie ihm auch von seinem Vorgesetzten vorgeworfen wird, er habe „einen Fuß drin und einen draußen“ S. 131. Genauso fühlte ich mich auch bei der Lektüre. Zwischendurch bewegte mich das ganze, wollte ich mich einfach auf die beiden Einsamen einlassen, die ineinander Rettung zu finden begannen. Doch dann gab immer wieder diese anderen Momente des Buches, gipfelnd in der wundersamen Rettung à la Robin Hood. Das wird als Film sicher ein Erfolg werden, ist mir aber leider insgesamt im besten Falle zu naiv, zu romantisierend. Ich mag nicht einmal mehr 3 Sterne geben, es tut mir leid.

 

Nachtrag: Ich habe das Buch einfach "blind" haben wollen, ohne die Leseprobe gelesen zu haben (ein Fehler - bitte unbedingt lesen, einigen wird es danach sehr zusagen, anderen nicht). Dazu hatte ich das Buch in einer Liste für eine Challenge anspruchsvoller Romane gesehen. Ich hatte also auch eine entsprechende Erwartungshaltung. Letztlich fand ich aber selbst "Die Nachtigall" von Kristin Hannah, gleiche Zeit, definitiv eher ein "Schmöker", kein Buch für Man Booker und Co., weniger pathetisch. Es ist also nicht, dass ich "Schmöker" oder Abenteuer-Romane oder Krimis zu Themen nicht lesen würde, ich mag nur eine etwas genauere Entscheidung zum Genre. Wer das Buch liest ohne diese Zuordnung im Kopf, mag da besser mit klarkommen.