Rezension

Einfühlsamer Jugendroman über die erste Liebe, Schuld und Vergebung

Viel näher als zu nah - Angela Kirchner

Viel näher als zu nah
von Angela Kirchner

Bewertet mit 4 Sternen

Die Geschichte ist aus Lucas‘ und Feys Sicht geschrieben. Der Perspektivenwechsel wird durch zwei verschiedene Schriftarten deutlich gemacht, wodurch Verwechslungen vermieden werden. Lucas‘ Sicht ist hier jedoch eindeutig dominierend. Dies war zwar manchmal etwas schade, aber letztendlich finde ich, dass es gut so ist. Der Fokus liegt hier eben auf Lucas, der eine ganz starke Wandlung erfährt und sich von einem eingebildeten, sich selbst unwiderstehlich findenden Typen zu einem sympathischen, nachdenklichen und feinfühligen jungen Mann entwickelt. Zwar entwickelt sich Fey auch weiter, aber nicht in dem Maße wie Lucas. Während ich Lucas anfänglich sehr unsympathisch fand und erst nach und nach begann, ihn zu mögen, hinterlässt Fey direkt zu Beginn einen positiven Eindruck.

Neben den beiden Protagonisten spielt noch Lucas’ bester Freund Ben eine wichtige Rolle, der ebenfalls in den Unfall verwickelt war und mit seinen Schuldgefühlen ganz anders umgeht als Lucas, der im Gegensatz zu Ben auch körperlich stets an sein Fehlverhalten erinnert wird. Die Freundschaft zwischen Lucas und Ben empfand ich als etwas Besonderes. Heutzutage bezeichnet man sowas wohl als echte „Bromance“. Nach außen hin die coolen Typen, die auf keiner Party fehlen dürfen, ist ihre Beziehung zueinander jedoch echt und tiefgehend, was bei Jungs in diesem Alter nicht selbstverständlich ist.

Der flüssige Schreibstil ist angenehm zu lesen, und ich bin förmlich durch die Seiten geflogen. Angela Kirchner schreibt anspruchsvoll, aber dennoch jugendgerecht. Ihre Schreibweise ist gefühlvoll, sie drückt vieles mit Bildern aus. Sehr gut dargestellt werden die Emotionen der Figuren. Die Anziehungskraft zwischen Fey und Lucas, aber auch und vor allem die Schmerzen, die die beiden nach dem Unfall haben. Man schleppt sich förmlich mit den lädierten Protagonisten durch die Welt und fühlt die Beklemmung beim Lesen.

Es ist eigentlich ein eher leises Buch, das sich zum Großteil im Innenleben der Protagonisten abspielt, und so wirkt auch die Liebsgeschichte zwischen Fey und Lucas zart und fast schon unschuldig. Diese leisen Töne transportiert die Autorin sehr gut.

Ein paar Kritikpunkte hätte ich dennoch:

Mir waren es nach dem Unfall zu viele zufällige Begegnungen zwischen Lucas und Fey. Ok, sie wohnen in der gleichen Stadt und sind ungefähr gleich alt. Da kann man sich schon öfter über den Weg laufen. Aber wenn sie sich jetzt erst kennengelernt haben, ist es komisch, dass sie danach plötzlich überall gleichzeitig sind. Auf Veranstaltungen, in der Physiopraxis, auf dem Friedhof. Natürlich muss man Möglichkeiten für Begegnungen schaffen, es war auch nicht total unrealistisch, aber halt ein bisschen zu konstruiert.

Des Weiteren hätte ich gerne mehr über Jennifer, Feys beste Freundin und das Unfallopfer mit den schwersten Verletzungen, erfahren. Sie taucht erst am Ende des Buches kurz auf und hat dann einen Auftritt, als wäre sie eine Heilige ohne irgendwelche Makel. Ich denke aber, sie hätte mehr „leisten“ können für die Geschichte und wäre ein bereichender Charakter gewesen. Andererseits kann ich auch nachvollziehen, dass die Autorin den Fokus ganz bewusst auf Lucas und Fey gelegt hat und nicht alle Figuren gleichermaßen tief gezeichnet wurden. Trotzdem schade.

Der Konflikt, dass Fey Lucas total anziehend findet, aber ihn eigentlich hassen sollte, hätte für meinen Geschmack stärker ausfallen dürfen. Trotz des ewigen Hin und Her zwischen den beiden war das Ende natürlich relativ vorhersehbar, wie bei den meisten Liebesgeschichten. Das letzte Gespräch zwischen den Protagonisten empfand ich als viel zu schmalzig. Aber bei diesem Kritikpunkt darf man natürlich der Autorin zu Gute halten, dass das Buch in erster Linie Jugendliche ansprechen soll und ich mit 36 nicht mehr zur eigentlichen Zielgruppe gehöre.

Doch trotz dieser Kritikpunkte hat mir die Lektüre dieses Romans viel Freude bereitet, und so ist Angela Kirchners Debütroman „Über den Dächern wir zwei“ schonmal direkt auf meine Leseliste gewandert.

„Viel näher als zu nah“ ist ein empfehlenswerter Roman, nicht nur für junge Leser – und nicht nur für weibliche, wohlgemerkt, auch wenn das feminin wirkende Cover dies vielleicht vermuten lässt.  In diesem Buch steckt viel mehr drin als eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen. Ich kann mir den Roman auch wunderbar als Schullektüre vorstellen, da hier ernste und wichtige Themen einfühlsam aufgearbeitet werden. Die Gefühle zwischen Lucas und Fey spielen zwar eine große Rolle, aber es gibt noch so viele andere Themen und Emotionen, die aufgearbeitet werden: Schuld, Verantwortung, Verzeihen, Freundschaft, Neuanfang.