Rezension

Engmaschig, anspruchsvoll, geschichtsträchtig

Lebt - Orkun Ertener

Lebt
von Orkun Ertener

Bewertet mit 4 Sternen

Can Evinman ist ein Ghostwriter für die Biografen der "Stars". Und gerade arbeitet er mit der Schauspielerin Anna an ihrer, als er auf einen älteren Mann trifft, der ihm seine brisante Lebensgeschichte erzählt. Und diese scheint eng mit Cans eigener Vergangenheit und Familiengeschichte verknüpft zu sein. Nach anfänglicher Gegenwehr, lässt sich Can aber gemeinsam mit Anna nach Thessaloniki locken, wo er mehr und mehr erschreckende Details seiner Vergangenheit erfährt. Und irgendwie scheint seine und Annas Geschichte miteinander zusammen zu hängen, sodass sich beide immer tiefer hineinziehen lassen und natürlich auch um ihr Leben fürchten müssen.

Orkun Ertener erschafft hier einen unglaublich eng gewebten fiktionalen Thriller, der auf geschichtlichen Begebenheiten aufbaut und so Realität und Fiktion geschickt verbindet. Man erfährt als Leser sehr viel über die Dönme, eine Religionsgemeinschaft, die nach außen hin vom Judentum zum Islam konvertierten, die aber dennoch während der Zeit des Antisemitismus verfolgt und getötet wurden. Außerdem steigt man tief in die Geschichte Thessalonikis, der Besatzung durch die Nazis, den Völkeraustausch zwischen Griechenland und der Türkei und natürlich der Deportation und Massenvernichtung der Juden ein. Man sollte also wirklich geschichtlich interessiert sein, sonst zieht sich der Roman sicherlich für den ein oder anderen extrem in die Länge, da Ertener wirklich sehr detailliert erzählt. Für mich war es unheimlich interessant, da mir dieser Teil der Vergangenheit absolut neu war und ich bis dato nichts von den Dönme gehört habe.

Weiterhin lässt sich Ertener viel Zeit mit dem Ausbau seiner Figuren und er hat sich erfolgreich bemüht, diese so lebendig wie möglich erscheinen zu lassen. Obwohl mir ehrlich gesagt, keiner von ihnen wirklich ans Herz gewachsen ist und ich nicht "mitleiden" konnte, war diese etwas entfernte "Vogelperspektive" in der ich mich befand (trotz ich-Perspektive), irgendwie spannend. So konnte ich besser beobachten und die Entwicklung der Figuren besser erfahren.

Ertener erschafft ein eng gewebtes Spinnennetz, springt in den Zeiten hin und her, gibt dem Leser immer einen neuen Faden, von dem man nicht weiß, wo dieser endet und mit wem er sich noch verwebt. Erst zum Ende hin werden die ganzen Parallelen und Verbindungen sichtbar und es lässt sich das große Ganze erahnen. Zu Beginn hat mich das noch genervt, da ich bei so vielen Personen, Schauplätzen und angedeuteten Details kaum noch den Überblick hatte. Lässt man sich aber darauf ein und lässt sich treiben und von der Geschichte mitreißen und vertraut darauf, dass der Autor einem schon noch des Rätsels Lösung präsentieren wird, geht es dann.

Außerdem ist dies definitiv kein Buch zum nebenbei lesen. Es ist durchaus anspruchsvoll und erfordert die absolute Aufmerksamkeit des Lesers. Mitdenken ist hier angesagt und ich fühlte mich von der Fülle an Infos sehr gefordert, was mir durchaus gut gefallen hat.

Fazit:

Ein sehr anspruchsvolles Buch, das eine eng gewebte Story erzählt, die auf realen geschichtlichen Begebenheiten aufbaut. Super skizzierte Figuren und eine spannende und erschreckende Handlung machen das Ganze für mich sehr rund. Auch wenn ich wirklich sehr lange für das Buch gebraucht habe (und mir auch die Rezi sehr schwer fällt), kann ich es nur jedem empfehlen, der auf dicht gewebte Thriller und Geschichte steht.