Rezension

Erinnerungen

Alles, was ich nicht erinnere - Jonas Hassen Khemiri

Alles, was ich nicht erinnere
von Jonas Hassen Khemiri

Bewertet mit 5 Sternen

"Ich rede mir ein, dass ich ein Teil der wirklichen Welt bin, dass Wörter nicht wichtiger als Menschen sind, dass ich nichts anderes will, als versuchen zu verstehen, was geschehen ist. " (Zitat, S. 315).

Samuel ist tot. Gestorben bei einem Autounfall. Selbstmord oder Unfall ? Die Geschichte "Alles, was ich nicht erinnere" ist ein Roman der ganz anderen Art. Interessant, manchmal verwirrend, es braucht auch vom Leser Konzentration und vor allem Aufmerksamkeit. Doch wenn man sich hinein gefunden hat, dann ist es eine sehr intensive Geschichte, bei der man selber nachdenkt, selber versucht sich eine Meinung zu bilden.

Das Grundgerüst des Romanes ist einfach. Ein schwedischer Journalist/Autor versucht das Leben des letzten Jahres von Samuel und vor allem dessen Tod zu rekonstruieren. Warum, wieso, weshalb ? Dafür befragt er die Menschen, die Samuel kannten. Angefangen von Mitarbeitern des Heimes, in dem seine Großmutter (deren altes Haus übrigens auch eine große Rolle spielt) liegt, über Nachbarn, der Pantherin (eine Freundin, die in Berlin lebt) und vor allem kommen Samuels Freund und MItbewohner Vandad und seine Freundin Laide zu Wort.
Am Anfang muss man sich reinfinden. Wiedergegeben sind immer nur die Antworten, die Berichte der Bekannten und Freunde. Keine Fragen. Es liest sich wie ein Protokoll von Gesprächen, wie die Niederschrift von Aufnahmeprotokollen, was sie auch darstellen sollen. Die Antworten der verschiedenen Interviewpartner werden nur durch Sternchen abgegrenz, wechseln häufig, meist sind es nur sehr kurze Passagen und jedesmal muss man überlegen, wer berichtet hier gerade ? Doch nach einer Weile habe ich mich hineingefunden in diesen besonderen Erzählstil.

Mehr als interessant wird es spätestens als Vandad und Laida erzählen. Abwechselnd. Manchmal zu den gleichen Ereignissen. Jeder aus seiner Sicht - meist erzählen sie widersprüchlich. Man kommt als Leser ins Grübeln - wer hat Recht, wer übertreibt oder erzählt nicht die (ganze) Wahrheit? Der Autor zeigt auf, dass je nachdem aus welchem Blickwinkel über Samuel berichtet wird, das Bild sich ändert. Verzerrt wird, verschleiert wird, gefiltert wird. Eine gelungene Darstellungsweise von Khemiri. Man fragt sich, wer war Samuel wirklich ? Wie war er und woran lag es, dass er so unterschiedlich wahrgenommen worden ist. Hat jeder nur sein eigenes (Wunsch)Bild projeziert ?

Vor allem sieht man immer Samuel vor sich, der sich wahrscheinlich genauso zwischen seinen Mitmenschen aufgerieben hat. Was hat schlußendlich zu seinem Tod geführt ?
Durch die Berichte seiner Mitmenschen merkt man, wie sich die Situation, die Stimmung bei Samuel immer mehr zugespitzte.
Als Leser versucht man sich ein eigenes Bild zu machen, was nicht immer leicht ist.
Was bleibt ist der Tod eines jungen Mannes, der sich verraten und letztendlich verlassen und ungeliebt gefühlt haben muss, der keinen Sinn mehr in seinem Leben sah, sich entwurzelt gefühlt hat und ohne Hoffnung.

Fazit:
Man muss ich einlassen auf die Erzählweise, auf die Geschichte und die Protagonisten. Es ist eine ganz andere Leseerfahrung. Anspruchsvoll, manchmal verwirrend, aber interessant, sehr gut aufgebaut, man muss Nachdenken und MItdenken.