Rezension

Erinnerungen

6 Uhr 41 - Jean-Philippe Blondel

6 Uhr 41
von Jean-Philippe Blondel

Bewertet mit 4 Sternen

"Wie um alles in der Welt verhält man sich in so einer Situation? Stellt man sich mit einem Standardsatz vor, in der Art: "Kennen wir uns nicht von irgendwoher?" Oder stellt man sich dumm und fällt aus allen Wolken, wenn der andere den ersten Schritt macht? "Cécile Duffaut? Ich glaub's nicht! Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken, da habe ich gar nicht ... na ja, Sie verstehen, ich meine ... du verstehst ...", und fuchtelt mit den Händen und Armen, setzt auf die Auslassungspunkte, die der andere mit Floskeln wie "natürlich", "tatsächlich?" oder "verstehe!" ausfüllen soll - Wörtern eben, die nichts besagen - ich habe sie so satt, diese Wörter, die nichts bedeuten. Oder ist es besser, einen auf fortgeschrittenen Alzheimer zu machen, nein, bedaure, ich kenne Sie nicht, Sie existieren nicht für mich, Sie sind lediglich eine zufällige Sitznachbarin in einem x-beliebigen Zug, der allmählich an Geschwindigkeit zulegt, warum sollte ich Ihnen mehr als höfliche Unaufmerksamkeit schenken? Genau. Das mache ich. Ich tue so, als würde ich sie nicht kennen - was genau genommen auch zutrifft, denn was hat es schon zu bedeuten, wenn man vor siebenundzwanzig Jahren mal zufällig drei oder vier Monate zusammen war? Nichts, rein gar nichts. Von ihr kommt keine Reaktion. Sie erinnert sich nicht an mich. Umso besser, oder? Ich darf nicht vergessen: Die meisten Menschen haben eine Löschtaste im Kopf, die sie manchmal drücken, wenn ihr Gehirn in Aufruhr ist, nach Missverständnissen, Treuebrüchen oder Verletzungen - und prompt verschwinden ganze Dateien ihrer Existenz; Gesichter, Namen, Adressen, Farben, alles verschwindet in einer Fallgrube und versickert in den Kloaken des Unterbewusstseins. Das muss einem klar sein. Cécile Duffaut hat alles verdrängt. Sie hat ihr Leben weitergelebt, und es geht ihr blendend. Wie beruhigend für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, mit ihr zu reden. Das wäre nur peinlich. Wegen London und allem. Kann mir nur recht sein. Es gibt massenhaft andere Dinge, über die ich nachdenken muss. Wichtigere Dinge als Cécile Duffaut."

Es ist ein ganz normaler Montagmorgen, wie viele andere auch, als Philippe Leduc um 6 Uhr 41 den Pendelzug nach Paris besteigt. Eine Fahrtzeit von etwa 95 Minuten liegt vor ihm, Zeit, die er üblicherweise nutzt, um zu lesen oder einfach nur auf die vorbeirauschende Landschaft zu schauen. Aber an diesem Montagmorgen sitzt er plötzlich und zufällig neben Cécile Duffaut und der Leser ahnt gleich, dass Philippe wohl heute nicht in sein Buch schauen wird.

 

Der Klappentext nennt dieses Buch ein "Kammerspiel in einem Zugabteil". Ich bin ja häufig nicht glücklich mit den Klappentexten, aber dieser Ausdruck trifft es genau. Tatsächlich passiert (fast) nicht mehr, als dass zwei Menschen während einer Fahrtzeit von ca. 95 Minuten ihren Gedanken und Erinnerungen nachhängen. Der Erzähler wechselt, mal folgen wir den Gedanken Céciles, mal denen von Philippe. Dadurch bekommt man im Laufe des Buchs Klarheit darüber, was die beiden verband und was sie trennte. Und je näher der Zug seinem Bestimmungsort kommt, umso brennender wird die Frage: Wie wird diese Fahrt enden?

 

Was für mich die Faszination dieses Buchs ausmacht, ist im Grunde seine Alltäglichkeit. Cécile und Philippe sind ganz "normale" Menschen, man kann sich als Leser gut in ihnen wiederfinden. Und ebenso in ihren Problemen. In dem Alter, in dem die beiden sind, ist das tägliche Leben doch nicht selten ein Kampf an allen Fronten: Neben dem Beruf und der eigenen Beziehung hat man Kinder, um die man sich sorgt und kümmert. Dazu kommen die eigenen Eltern, die alt werden oder schon sind. Auf dem Bahnsteig wartend sind Céciles Gedanken ganz voll mit Ärger über das vergangene Wochenende bei ihren Eltern. 

 

Das Eingangszitat meiner Rezi gibt die ersten Gedanken wieder, die Philippe durch den Kopf schießen, als er entdeckt, neben wem er sitzt. Dieses Durcheinander, diese Unsicherheit - ich glaube, meine Gedanken würden in dieser Situation ähnlich aussehen. Wie hat er/sie sich verändert? Ob er/sie mich überhaupt erkennt? Und wie soll ich bloß reagieren? Dass unmittelbar darauf Erinnerungen kommen, verbunden mit teils kritischen Fragen an sich selbst, kommt mir fast schon wie ein Automatismus vor. Was ist damals passiert? Was hat er/sie getan? Was habe ich getan? Und war das eigentlich so in Ordnung? Würde ich heute etwas anders machen als damals? Ich gestehe: Vor meinem geistigen Auge entstanden gleich Bilder aus meiner Vergangenheit. Gesichter tauchten auf... Wenn ich mir vorstelle, der säße jetzt plötzlich in der Bahn neben mir...

 

Die 189 Seiten lesen sich sehr schnell weg. Der Schreibstil gefiel mir, er war immer ganz nah dran am Menschen. Vor allem Philippes Gedanken waren manchmal sehr sarkastisch, an anderen Stellen sehr gefühlsbetont. Mal suchten die beiden vor sich selbst Rechtfertigungen, mal gestanden sie sich selbst Fehler ein. Sehr menschlich, eben.

 

Fazit: Ein hübsches kleines Büchlein, das den Leser mitnimmt auf eine Reise - hin zu seinen eigenen Erinnerungen.