Rezension

Erlebbare Geschichte aus mehreren Perspektiven

1812 - Adam Zamoyski

1812
von Adam Zamoyski

Bewertet mit 5 Sternen

"Hier hätte ein Dante Inspiration für seine Schilderung der Hölle finden können."

"»Ich wünsche nicht, Krieg gegen Rußland zu führen«, erklärte er dem Fürsten Schuwalow während einer Unterredung im Mai 1811 in St. Cloud. »Es wäre ein Verbrechen meinerseits, denn ich würde grundlos einen Krieg beginnen, und ich habe, Gott sei Dank, noch nicht den Verstand verloren, ich bin nicht verrückt.«"

Geschätzt verloren eine Million Menschen im Zuge von Napoleons Einmarsch mit seiner multinationalen Grande Armée ihr Leben. Der Autor Zamoyski legt anschaulich dar, dass sowohl Napoleon Bonaparte als auch Zar Alexander gleichermaßen am Ausbruch dieser Katastrophe beteiligt waren, indem sie sich in einer Spirale aus Machtpolitik und Misstrauen ineinander verfingen, was verheerende Folgen nach sich trug.

Bereits im Vorwort stellt der Autor klar, dass das Buch nicht den Anspruch erhebe, alle Fragen endgüldig zu beantworten – um dies zu bewerkstelligen, müsse der Umfang des Buches mehr als doppelt so groß angelegt sein. Und dennoch schaffte es der Autor - meiner Meinung nach -, den meisten gerecht zu werden. Da viele Kriege – und dieser explizit – zu nationalen Geschichtsschreibungen und zweckbestimmten Deutungen genutzt werden, bietet Zamoyski ein Panoramablick und vergleicht Quellen, um diese wiederum zu kommentieren, wenn sich Widersprüche zeigen - mithilfe des gesammelten Wissens der Gegenwart. Daher kommt es immer wieder mal zu Beurteilungen, wer wann welchen Fehler machte, was das Buch wiederum einen analysestarken Ton verleiht. Grundsätzlich ging es dem Autor um Folgendes:

Mein Hauptziel beim Verfassen dieses Buches bestand darin, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, von der jeder gehört hat, aber von der nur wenige genaue Kenntnisse besitzen.Vor allem habe ich mich bemüht aufzuzeigen, was diese Ereignisse auf allen Ebenen für die Betroffenen bedeutet haben – denn es ist eine menschliche Geschichte schlechthin, von Hybris und Nemesis, von Triumph und Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und Leid.

Erstaunlich, wie viele Teilnehmer von beiden Seiten ihre Erlebnisse und Gedanken in Briefen und Tagebucheinträgen festhielten. So kommen in diesem Buch nicht nur die „Großen“, wie beispielsweise gebildete Kommandeure, zu Wort, sondern auch (wenn nicht sogar überwiegend) die einfachen Soldaten, sowie Wundärzte, Marketenderinnen, Bauern und anderen Zeitzeugen. Gerade diese Auszüge und der Perspektivenreichtum, die in allen Kapiteln zu Hauf vorkommen, machen das Buch angenehm lebendig und erschreckend zugleich.

"»Bis dahin war unser Marsch nichts weiter als ein schöner Spaziergang gewesen«, schrieb ein wehmütiger Julien Combe, Leutnant im 8. Regiment der Gardejäger zu Pferde. Von jetzt an würde er eine Qual sein."

Der Vorgeschichte, sowie den bisherigen Lebenswegen von Napoleon und Alexander werden im Buch genügend Raum gelassen. Auch die einzelnen Züge, Vorstoße, Ruckzüge und Schlachten zeichnet der Autor souverän und überschaubar nach. Die Aufstellungen und Verläufe werden hierbei mithilfe von Skizzen unterstützt. Abgesehen von den üblichen Historiengemälden wurden um die 60 Zeichnungen von Beteiligten abgedruckt, die den bildhaften Schreibstil zusätzlich unterstreichen.

Interessant zu lesen fand ich u.a. die unterschiedlichen Vorstellungen, die die beteiligten Gruppen, wie beispielsweise die Italiener, in der Grande Armée hatten und welche Beweggründe sie hatten - ebenso die Unwissenheit vieler, wohin es eigentlich gehen sollte.

Das Soldatenleben wird hier ebenfalls sehr detailliert beschrieben, so u.a. die unterschiedlichen Uniformen. Der Autor erklärt einiges, worüber ich mir bislang nie Gedanken gemacht hatte:

"Der [Anmerkung: französische] Soldat trug Schuhe mit häßlichen viereckigen Spitzen – um vor Diebstahl oder dem Weiterverkauf an Zivilisten abzuschrecken.“

Grundsätzlich arbeitet das Buch oftmals mit Vergleichen, was mir naheliegend erscheint, da der Gegensatz manchmal nicht hätte größer sein können: Während Napoleon jedem Soldaten großzügige Aufstiegsmöglichkeiten einräumte (was ihm später u.a. zum Verhängnis werden sollte), gab es bei der russischen Armee, für die man sich übrigens fünfundzwanzig Jahre verpflichteten (und viele starben bereits bei der Ausbildung), kaum Beförderungen (außer man hatte entsprechende Beziehungen bei Hofe), zumal es dort anscheinend weitaus brutaler zuging:

"Wer versuchte, einer Kanonenkugel auszuweichen, wenn die Einheit angetreten war, wurde mit Stockschlägen bestraft. Ein Soldat oder Unteroffizier, der Feigheit vor dem Feind zeigte, war sofort zu erschießen."

Gräueltaten gab es auf beiden Seiten zu Genüge. Harter Tobak stellen ebenfalls die beschriebenen Umstände der Märsche und Gemetzel dar, die derart schlimm waren, dass hunderte sich selbst umbrachten. Allgemein schildert Zamoyski so anschaulich, dass mir stellenweise regelrecht übel wurde. Die Grausamkeiten und Auswirkungen des Krieges werden hier mehr als deutlich. Außerdem zeigt das Buch eindrucksvoll auf, dass der Russland-Feldzug zwar „Helden“ schuf, aber – wie jeder Krieg - vor allem Opfer. Gleichzeitig räumt es mit hartnäckigen Legenden und Mystifizierungen, die aufgrund des rätselhaften Ausgangs des Ganzen entstanden, auf.

"Hier hätte ein Dante Inspiration für seine Schilderung der Hölle finden können."

Wie ambivalent Napoleon im Charakter, aber auch mit seinen Plänen und Entscheidungen in diesem Fall war, aber auch seine Anhänger zu ihm standen, ergibt sich in diesem Buch mehr als anschaulich. So verlangte Napoleon beispielsweise am 14. Juni von den Kommandeure aller Korps, dass sie ihm ehrliche Angaben bezüglich ihrer Truppen zu geben hätten. Zamoyski schreibt dazu: „Napoleon reagierte grundsätzlich zornig, wenn man ihm schrumpfende Zahlen vorlegte, insbesondere, wenn sie sich nicht auf Verluste in Kampfhandlungen zurückführen ließen; daher gewöhnten sich die Verantwortlichen an, ihm ihre Verluste schlicht zu verheimlichen.“

Gut finde ich, dass der Autor dort Lücken ließ, wo er keine belegte Quellen fand - da heißt es dann beispielsweise „Man kann lediglich spekulieren, was für eine Reaktion Alexander von Napoleon erwartete.“ - und nimmt dies zum Anlass, um den Stand der Dinge abermals kurz zu skizzieren, und zieht, um bei diesem Beispiel zu bleiben, die Schlussfolgerung eines anderen Historikers hinzu („Er kann Alexanders Botschaft nur als Provokation aufgefaßt haben, als „freche Herausforderung“, wie der britische Historikers William Hazitt es formulierte.“)

So sehr auch die Entbehrungen, Grausamkeiten und Qualen im Buch überwiegen, da nichts verschwiegen wird – weder das Los der Gefangenen und Verletzten noch der Kannibalismus, der aufgrund der Hungersnot ausbrach -, findet der Leser zwischendurch ebenso kleine Momente des Mitgefühls, der Freundschaft und der Hilfsbereitschaft, die ich manchmal so herzzerreißend fand, dass ich beim Lesen Tränen in den Augen hatte - vor allem aber auch dann, wenn Einzelschicksale festgehalten wurden, wie beispielsweise eines jungen Soldaten, den seine Kameraden am Morgen wecken wollten, der aber über Nacht mit dem Bild seiner Liebsten in der Hand bereits erfroren war.

"»Die Russen tranken auf der einen Seite, wir auf der anderen; wir verständigten uns mit Worten und Händen, tauschten Getränke und Tabak, womit wir reicher ausgestattet und großzügiger waren«, schrieb Lyautey nach Hause. »Bald darauf beschossen sich diese guten Freunde mit Kanonen.«"

Zusätzlich versucht der Autor dem Phänomen, was die Faszination Napoleons ausmachte, näher zu kommen Auch hierfür stützt er seine Deutungen mit zahlreichen Aussagen. Obgleich dem Krieg nur wenig Erhabenes entsprang, wusste Napoleon, selbst beim qualvoll langsamen Rückzug, wie er sein Bild als Idol zu stilisieren hatte.

"»Niemand, der die Zeit Napoleons nicht miterlebt hat, vermag sich den mitreißenden Einfluß vorstellen, den er auf die Gemüter seiner Zeitgenossen ausübte«, schrieb ein russischer Offizier und fügte hinzu, daß sich bei jedem Soldaten, gleich auf welcher Seite, schon die bloße Erwähnung seines Namens mit der unmittelbaren Vorstellung grenzenloser Macht verband."

Ab und an lässt sich Zamoyski zu pauschalen Aussagen hinreißen, wenn es da heißt „Alle waren der Meinung, dass ...“, was ich aber verschmerzen konnte. Anmerken möchte ich noch, dass auch die Schriftsteller Puschkin, Tolstoi und Stendhal, der in dieser Höllenfahrt involviert war, kurz erwähnt werden.

Nun muss ich abschließend einräumen, dass ich bislang kein weiteres Sachbuch zu dieser Thematik las, um Vergleiche ziehen zu können. Da der Anhang - und somit auch die Quellennachweise - um die 100 Seiten umfasst, gehe ich von einer gründlichen Recherchearbeit aus.

Summa summarum kann ich dem Autor lediglich meine Bewunderung aussprechen, wie er dieses epochale Ereignis aus russischer, französischer, unterer und oberer Sicht erzählt und zu einem Ganzen zusammenfügt. Ich zumindest konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, was u.a. auch an Zamoyskis gekonntem Schreibstil lag.

"Ségur schrieb: »Ein Schauspiel ohne Zuschauer, ein Sieg so gut wie ohne Früchte, ein blutiger Ruhm, für den der Rausch, der uns umgab und unsere einzige Eroberung zu sein schien, das nur allzu wahrhaftige Symbol war.«"