Rezension

Erschütternd, unmenschlich aber höchst interessant

Kukolka - Lana Lux

Kukolka
von Lana Lux

Bewertet mit 5 Sternen

Ganz unten gibt es noch den Keller

„Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Das ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. Niemand weiß, wo die herkommen. Niemand braucht sie. Sie leben, bis sie einer wegklatscht. Normalerweise hätte ich geheult. Ich heulte in letzter Zeit ständig. Aber diesmal nicht.“

 

Inhalt

 

Samira lebt in einem Kinderheim in der Ukraine und kennt mit ihren 7 Jahren nichts weiter als Drill, Schläge, Strafen und Einsamkeit. Erst als sie ein anderes Mädchen kennenlernt und sich mit ihr anfreundet, bekommt ihr Alltag etwas Sonne. Doch Marina, ihre neugewonnene Freundin hat Glück: kaum im Heim angekommen, findet sie eine gutsituierte Adoptivfamilie aus Deutschland und verlässt Samira einfach so, um in der Fremde eine echte Familie zu finden. Fortan wird es das oberste Ziel der kleinen Zigeunerin, ebenfalls nach Deutschland zu kommen, egal wie und mit wem. Eine Flucht aus dem Heim scheint eine erste Option, doch auf der Straße lernt sie den schwergewichtigen, stinkenden Rocky kennen, der eine Art Auffangbecken für Jugendliche betreibt. Dort bekommt Samira, die sich jetzt Kukolka nennt ein Dach über dem Kopf, muss aber erleben, wie Drogen, sexuelle Gewalt und räuberische Delikte als ganz normale Einkommensquellen betrachtet werden. Je älter sie wird, desto schäbiger erscheint ihr Rocky und so geht sie nur zu gern im Alter von 12 Jahren mit ihrer ersten großen Liebe, die ihr wie ein Märchenprinz erscheint mit, doch auch dieser entpuppt sich bald als fataler Kontakt in Richtung Straßenstrich …

 

Meinung

 

Nach zahlreichen begeisterten Leserstimmen, wollte ich mir unbedingt ein eigenes Bild von diesem Roman machen und bin mit recht hohen Erwartungen an die Lektüre herangegangen. Und mich konnte die junge, selbst aus der Ukraine stammende Autorin mit ihrem Debütroman über Menschenhandel und Zwangsprostitution mehr als beeindrucken. Zunächst einmal, weil sie Samira, ebenjenes Mädchen, die seit ihrer Geburt am Rande der Gesellschaft lebt, erzählen lässt und so eine teilweise kaum aushaltbare Nähe zwischen der Protagonistin und dem Leser heraufbeschwört und zum anderen, weil sie mit so leichter Hand durch eine Odyssee des Schmerzes, der Enttäuschung und der Abstumpfung führt, wie man sie auf Grund der geschilderten Ereignisse fast nicht nachvollziehen kann.

 

Den Fokus setzt Lana Lux ganz klar auf dieses kleine, heranwachsende Mädchen, welches verzweifelt nach Liebe und besseren Lebensbedingungen sucht. Von Naivität ist hin und wieder etwas zu spüren, doch Samira hat es nicht gelernt Vertrauen zu fassen und möchte dennoch nichts anderes. Verzweifelt sucht sie nicht nur menschliche Wärme und Zuneigung, sondern auch Akzeptanz und Wohlwollen. Nur zu gern möchte sie es den Erwachsenen „recht machen“, wenn diese sie dafür annehmen. Der bittere Reifeprozess, den sie durchläuft, zeigt ihr aber immer wieder, wie eigennützig andere handeln und das sie bestenfalls geduldet wird, aber selbst dieses nur, solange sie bereit ist, anderen Gefälligkeiten zu erweisen. Darüber hinaus schafft die Autorin auch einen umfassenden Bekanntenkreis von Samira, lockere und enge Kontakte, die dem Leser sehr viel über die Welt verraten, in der sich Kukolka täglich beweisen muss.

 

Die Geschichte wird in drei Teile gegliedert, zunächst die frühe Kindheit, dann das wilde aber doch abhängige Leben in der Kommune bei Rocky und schließlich Kukolkas Weg nach Deutschland, der sie statt ans Ziel ihrer Träume immer weiter hinein in die Prostitution führt und in dem es bald um Leben oder Tod geht. Denn wie es scheint, gibt es auf der ganzen weiten Welt keine Menschenseele, die sie kennt, niemanden der sie vermisst, niemanden der sie liebt und tatsächlich in ein freies, selbstbestimmtes Leben begleiten will. Und obwohl eine derartige Ausgangssituation nicht unbedingt typisch erscheint, empfindet der Leser dennoch eine beängstigende Realitätsnähe, die den unbedingten Wunsch weckt, dem Mädchen möge doch bitte ein Wunder helfen, wenn es sonst schon keiner tut.

 

Das Potential dieser Erzählung beruht auf dem geschilderten Werdegang einer verlorenen Seele, die bereits ganz unten ist, nur um dann zu erfahren, dass es statt einer Fluchtmöglichkeit nur noch einen Keller weiter unten gibt, die so oft und nachhaltig enttäuscht wird, der jegliche Emotion ausgetrieben wird und die sich schließlich eher nach dem Tod als nach einem echten Leben sehnt.

 

Fazit

 

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen dramatischen, erschütternden Roman über den Abstiegskampf eines jungen Mädchens, der gerade wegen seiner geradlinigen, objektiven Erzählweise so bedrückend und endgültig wirkt. Es hat mir ausgesprochen gut gefallen, dass die Autorin sehr viel Wert legt, keine Schuldzuweisungen aufzubauen, dass ihre Protagonistin kein Mitleid sucht, sondern echte Hilfe, dass sie darauf besteht, zu zeigen, wieviel Kampfgeist in einer geschundenen Seele ruht und wie wichtig es ist, sich selbst in der größten Not ein übergeordnetes Ziel zu suchen. Eines meiner Jahreshighlights 2017!