Rezension

Erschütternde Flucht durch Deutschland

Der Reisende - Ulrich Alexander Boschwitz

Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz

Bewertet mit 4 Sternen

„Ja, die Erde bebt, aber nur unter uns.“ (S. 77-78)

Wohin flüchtet man, wenn das ganze Land ein Gefängnis zu sein scheint? Vor dieser Frage steht Boschwitz‘ Protagonist Otto Silbermann, ein Jude in der Zeit der ersten großen Verhaftungswelle Ende der dreißiger Jahre. Auf seiner Flucht durch Deutschland werden erschütternde menschliche Abgründe deutlich.

Etwas schmerzhaft ist es immer, Romane aus der Zeit der Judenverfolgung zu lesen. Man weiß nicht, wie man sich selbst verhalten hätte, man weiß unter Umständen nicht, wie Familienmitglieder sich verhalten haben, aber vor allem sind die Geschehnisse von damals so unsagbar furchtbar. Jedes Mal, auch bei diesem Buch, schnürt sich mir die Kehle zu, wenn ich von den Ungerechtigkeiten lese, die unschuldigen Menschen widerfahren sind; wenn ich lese, wie „ganz normale“ Leute geredet haben; wie diese ganz normalen Leute plötzlich all ihre Hemmungen verloren haben und sich tatsächlich – wie unglaublich! – im Recht gesehen haben. Machen ja alle.

„Was ich tue, das tun andere auch.“ (S. 59)

Besonders beeindruckend und erschütternd fand ich die Selbsterkenntnis Silbermanns, dass auch er nicht besser ist: Ausgestattet mit dem Glück, zumindest optisch nicht gleich als Jude verdächtigt zu werden, ertappt er sich wiederholt dabei, die Gesellschaft anderer Juden zu meiden, um nicht selbst „kompromittiert“ zu werden. Das verdeutlicht vielleicht mehr als alles andere, wie verlockend es gewesen sein muss, sich unsichtbar zu machen und einfach der Mehrheit anzuschließen – aus welchen Gründen auch immer und so falsch das auch ist. Wer von uns weiß wirklich, was er getan hätte?

Die autobiografischen Einschläge, die dieser Roman sicherlich hat (immerhin ist Boschwitz selbst jüdischer Emigrant aus der Zeit gewesen), sind vermutlich erhebliche Faktoren, die zur Glaubwürdigkeit und zur Intensität beigetragen haben. In jedem Fall: Ziemlich erschütternd und ziemlich lesenswert.