Rezension

Erzählerisch komplex – dabei gut zu lesen: ein sehr gelungener Roman

Sterben kann jeder - Jens Dittmar

Sterben kann jeder
von Jens Dittmar

Bewertet mit 5 Sternen

In Jens Dittmars Roman »Sterben kann jeder« entfaltet sich die Geschichte vor allem Lorenz Kaufmanns, seiner Mutter Ilse, seines Vaters Jodok Kaufmann, eingelassen in ihre historische Umwelt, in ein Panorama von Personen, mit denen sie zu tun haben. Erzählt wird vom Leben Ilses bei ihren Eltern in Norddeutschland, wo sie Jodok kennenlernt, der aus Balzers in Liechtenstein stammt; von beider Lebenswegen zur Zeit des Nationalsozialismus und im Krieg; von der Entwicklung und von Brüchen in ihrer Beziehung; von Jodoks Rückkehr nach Liechtenstein, wohin ihm die schwangere Ilse folgt; von Jodoks Tod, von Lorenz’ Gegenwart. Jodok und Lorenz sind beide Menschen, die Wahrheiten, der sicheren Annahme eines Sinns, nicht trauen.

Die historische Gegenwart des Romans – von wo er immer wieder in Vergangenheit zurückblickt – ist die Zeit, als der damalige amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama im Juli 2008 Berlin besucht. Die Erzählung des Romans beginnt so, dass ein Erzähler an Beispielen die historische Gegenwart sowie danach Lorenz Kaufmann und seine Frau Andrea einführt; dann geht die Perspektive über in die Gedanken Lorenz Kaufmanns, der seine Mutter Ilse im Altenheim besuchen will, von der er glaubt, dass sie bald stirbt. Wenn Lorenz seine Mutter trifft, wird die Vergangenheit aus deren Sicht geschildert, die von ihrem Leben und ihren Eltern sowie von Jodok Kaufmann berichtet, wobei sie dann darstellt, was sie von Jodok weiß, und die Erzählung in solchen Passagen aus dessen Perspektive erfolgt. Dabei kehrt der Roman immer wieder zu Lorenz und seiner Perspektive zurück, worauf die Schilderung dann wieder aus Ilses Sicht, teils auch erneut aus der Jodoks erfolgt. Typisch für die Erzählart des Romans ist auch, dass er zwischendurch Personen folgt, die eigentlich nur Randfiguren sind. Jodok, Fotograf und »Fotosoph«, fährt z. B. im Winter  mit dem Fahrrad durch ein Unwetter, um einen Fototermin mit Thomas Mann wahrzunehmen; er verliert die Orientierung über den Weg und trifft am »Waldrand in der Einfahrt ihres Hauses […] Frau Dr. Herzog«, die »mit einem Arbeiter vom Werkhof« zankt. Er fragt sie nach dem Weg, und dann heißt es von ihr: »Frau Dr. Herzog war Ärztin und Korrespondentin der ›American Medical Tribune‹; sie arbeitete zu Hause. Mit ihrer Dissertation über Epilepsie bei Kindern hatte sie auf dem Gebiet der Zwillingsforschung Neuland betreten. […] Der Werkhofarbeiter beobachtete verstohlen, wie die beiden [Frau Herzog und Jodok] um die Ecke bogen, wo der Hauseingang zu vermuten war. […] Er hatte noch nie einen Blick in den Garten werfen dürfen, aber eines Tages, das schwor er, würde er selbst ein Haus besitzen – nicht so groß zwar und ohne Swimming-Pool, aber doch sein eigen.« (S. 141 f.)

Frau Herzog und der Werftarbeiter spielen im Roman sonst keine Rolle; dass die Handlungsfäden immer wieder kurz ins Leben von Nebenfiguren oder von Nebenfiguren von Nebenfiguren hineinreichen, geschieht immer wieder, es ist ein erzählerisches Mittel des Autors.

Was erreicht er so? Was erreicht er über seine erzählerische Konstruktion insgesamt?

Im Zentrum steht die Geschichte von … Aber während ich dies schreibe, erkenne ich, dass dies falsch oder zumindest ungenau ist: Es gibt kein Zentrum im üblichen Sinne; und es wird zwar von Personen erzählt, die Sohn, Mutter, Vater sind (und Schwiegertochter und Eltern der Mutter, des Vaters), aber es handelt sich nicht um eine Familiengeschichte. Es gibt eigentlich keine Personen, die im Zentrum stehen und mit denen die Leserin, der Leser sich identifiziert, es gibt nicht die Illusion des Lesers, der Leserin, an einer Geschichte von Menschen, einer »wahren« Geschichte teilnehmen zu können. Der Autor vermeidet die Verengung auf nur wenige Personen und schafft ein Panorama zeitlicher und persönlicher Zusammenhänge, die unvollständig sind und sich irgendwo verlieren – wie in der Realität unserer Wahrnehmung von Welt. Damit ist Jens Dittmars Roman an der erlebten Realität näher dran als Bücher, die den Leserinnen und Lesern die Illusion geben, an der Geschichte von Personen, einer Familie teilzunehmen.

Die Handlung des Romans zerfasert bei all dem nie – ich wollte bei der Lektüre immer wissen, wie es weitergeht, habe den Roman sehr gerne gelesen.  »Sterben kann jeder« ist Jens Dittmars zweiter Roman; der Autor, Jg. 1950, hat erst nach ca. drei Jahrzehnten Tätigkeit im Verlagswesen, u.a. als Lektor in Gerlingen bei Stuttgart, und im Kulturbereich begonnen, eigene literarische Projekte zu verfolgen. Auf meinem Schreibtisch wartet schon sein dritter Roman, »So kalt und schön«, und ich freue mich auf die Lektüre.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 30. April 2017 um 16:08

Das klingt sehr gut und ich mag diese Art des Schreibens, auch Nebenfiguren (des Lebens) einzubeziehen, so ist es ja im wirklichen Leben auch. Aber: wo ist denn die Thematik geblieben? Das Sterben. Was wird denn in dem Buch darüber ausgesagt?

Steve Kaminski kommentierte am 30. April 2017 um 16:19

Das zeigt sich im Laufe der Handlung - wenn ich das beschriebe, würde ich aber etwas vorwegnehmen.