Rezension

"Es hatte eine Zeit vor dem Krieg gegeben, und nun gab es eine Zeit nach dem Krieg. Auch wer ihn ohne Schaden überstanden hatte, würde ihn künftig in sich tragen.“

Das Mädchen im Strom - Sabine Bode

Das Mädchen im Strom
von Sabine Bode

Bewertet mit 5 Sternen

"Es hatte eine Zeit vor dem Krieg gegeben, und nun gab es eine Zeit nach dem Krieg. Auch wer ihn ohne Schaden überstanden hatte, würde ihn künftig in sich tragen.“ S. 200

„Ein anständiger Deutscher lässt sein Geld im Land“ S. 12 – der semmelblonde Wilhelm Samuel will als Patriot Reichskanzler Brüning unterstützen und holt sein Vermögen aus der Schweiz. Er führt die von der Mutter gegründeten Schuhgeschäfte in Wiesbaden, bietet der Familie ein gediegenes Leben, für Töchterchen Gudrun wird eine Kinderfrau beschäftigt. Die schafft es, klarzustellen, dass Gudrun charakterstark ist, nicht etwa widerborstig. Aus dem pummeligen Kind wird 13-jährig eine schlanke Schönheit, die im Strandbad schwimmt, raucht, kopfüber in die Fluten springt vom Sprungbrett und auf Schlepperschiffe im Rhein klettert.

Sie und der 3 Jahre ältere Martin verlieben sich ineinander: „Gudrunundmartin, die sind ja schlimmer wie ein Ehepaar, hieß es im schönsten Mainzer Komparativ.“ S. 28 Mainz ist noch katholisch, „beim Gottesdienst im Dom waren Mitglieder der NSDAP von den Sakramenten ausgeschlossen“ S. 24 Doch Gudruns Vater verliert bald seine Geschäfte, die Familie die Wohnung, Gudrun muss die Schule verlassen. Durch Martins Familie geht ein Riss – Mutter und einer der älteren Brüder sind glühende Verehrer Hitlers. Die Liebenden treffen sich weiter, heimlich. „Sie redeten nicht über Gefahr, nicht über Rassenschande und Zuchthaus. Aber sie sprachen auch nicht mehr von einer gemeinsamen Zukunft. Früher einmal hatten sie sich gegenseitig ihre Kinderfotos gezeigt und sich vorzustellen versucht, wie ihre eigenen Kinder aussehen würden.“ S. 61  Der Friseur des Vaters, Parteimitglied der ersten Tage, und die Kioskbesitzerin im Viertel werden zu Vertrauten, später Helfern.

Das Leben einer realen Person wird hier nacherzählt, das der Gertrude Meyer-Jörgensen, geboren am 29. Juli 1918 als Gertrude Salomon in Mainz. Die Eltern sind Juden, leben den Glauben aber nicht aktiv. Der Vater ist wohlhabend, es ist eine gediegene Kindheit. Es existiert ein leider unvollständiges Interview in bescheidener Qualität, das dennoch den eindeutigen Bezug zum Roman sehr klar macht, auf Youtube aus dem ZDF https://www.youtube.com/watch?v=B3agPznYuz0   . Man muss sich den Bezug zum realen Leben wirklich mehrfach verdeutlichen, weil es einfach so eine unglaubliche Geschichte ist, gleichzeitig aber die Lebensbedinungen sehr bildhaft und differenziert dargestellt werden. Das Überleben des jungen Mädchens, ich bleibe jetzt bei dem Buchnamen, wurde möglich, indem Gudrun über die Sowjetunion nach Shanghai reiste. Mir waren bis dahin diese Möglichkeit und die Existenz des jüdischen Ghettos in Shanghai unbekannt – der Krieg erreicht die Flüchtlinge aber auch in der Ferne.

Sabine Bode hat bislang Sachbücher geschrieben, schafft es aber problemlos, ihren ersten Roman sowohl faktenreich als auch fesselnd zu gestalten. Es gibt im Leben der jungen Frau die, die nehmen – und jene, die teils völlig uneigennützig und unerwartet geben und helfen. Und es gibt vor allem diese fast ungebrochene Energie von ihr, anzupacken und sich quasi an der eigenen Kurzhaar-Frisur aus dem Dreck zu ziehen, weiterzumachen. Es existiert das späte Interview mit der Überlebenden, das Ende ist also „keine Überraschung“ – spannend ist, was sie antrieb, mit welchen Widersprüchen sie sich auch speziell nach Kriegsende auseinandersetzen musste. Gerade ihre ersten Reisen nach Mainz nach dem Krieg waren unter anderen Überlebenden nicht unumstritten, erste Treffen mit früheren Bekannten sind durchaus zwiespältig: da wird Gudrun im zerstörten Mainz der Nachkriegsjahre von alten Klassenkameradinnen als Gewinnerin empfunden, weil sie inzwischen in London lebt.

Ein starkes Buch mit einer starken Heldin und eindrucksvollen Bildern, die der Text im Kopf entstehen lässt.