Rezension

Familienbande

Flieh in die dunkle Nacht - Mary Higgins Clark

Flieh in die dunkle Nacht
von Mary Higgins Clark

Bewertet mit 5 Sternen

Die New Yorkerin Olivia Morrow erhält von ihrem Arzt und Freund Clay die Nachricht, dass ihr nur noch wenige Tage vergönnt sind.
Obwohl sie auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken kann und durchaus bereit ist, Abschied zu nehmen, nagt ein Geheimnis an ihr, das sie seit vielen Jahren hütet und von dem sie spürt, dass sie es nicht mit ins Grab nehmen darf: ihre geliebte Cousine Catherine ist vor vielen Jahren ihrer Berufung gefolgt und Ordensschwester geworden, - kurz bevor sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr.
Ihren neugeborenen Sohn, dessen Vater der charismatische Arzt und Wissenschaftler Alexander Gannon war, gab sie zur Adoption frei.
Olivia verfolgte aus der Entfernung seinen Lebensweg und nach seinem Tod den seiner Tochter, der jungen Kinderärztin Monica Farrell, die inzwischen in New York lebt und nicht ahnt, dass sie die Enkelin Catherines ist, über deren Seligsprechung die katholische Kirche gerade berät und zu der Monica selbst angehört werden soll.
Olivia drängt es, der jungen Ärztin, in der sie eine große Ähnlichkeit mit der Nonne, der man Wunderheilungen zuschreibt, erkennt, die Wahrheit über ihre Herkunft mitzuteilen. Doch bevor es dazu kommt, wird Olivia umgebracht...
Für den Leser wird bald klar, dass jemand aus der reichen, philantropischen Familie Gannon oder aus deren Umkreis um jeden Preis verhindern möchte, dass die Wahrheit ans Licht kommt, denn viel Geld steht auf dem Spiel, zumal Alexander Gannon sein Vermögen seinen direkten Nachkommen vermacht hat, sofern es sie gibt.
Monica, die rechtmäßige Erbin, muss also aus dem Weg geräumt werden....

Mit "Flieh in die dunkle Nacht" hat Mary Higgins Clark einen weiteren ihrer eleganten und unverwechselbaren Spannungsromane geschrieben, die den Leser sogartig in ihren Bann ziehen!
Wie die meisten ihrer Bücher spielt auch dieses an der Ostküste der Vereinigten Staaten und in der gehobenen Mittelklasse, - ein Milieu, in dem die Schriftstellerin selbst beheimatet ist.
Auch hier lässt sie neben den Protagonisten wieder eine ganze Reihe von Personen auftreten, die sie auf ihre präzise und unnachahmliche Weise charakterisiert, so dass der Leser sehr schnell ein Gefühl für sie bekommt und seine Sympathien ganz im Sinne der Autorin verteilt.

Aber Achtung! Bei Mary Higgins Clark muss man immer auf Überraschungen gefasst sein, auf unerwartete Entwicklungen und nicht vorhersehbare Auflösungen!
Denn anscheinend sympathische Figuren zeigen plötzlich ihr wahres, oftmals verstörendes Gesicht. Und umgekehrt stellen sich zunächst wenig liebenswürdige Charaktere als anständige Personen, gar als Sympathieträger heraus.

Ein weiteres Charakteristikum von Mary Higgins Clarks raffinierten Psychothrillern sind die jeweils spezifischen Themengebiete, die den Rahmen der immer spannenden Handlung bilden und die von der Autorin stets sehr gründlich recherchiert wurden.
Der vorliegende Roman kreist gleich um mehrere Themen.
Da ist zum einen die Welt der Familie Gannon, die durch die von Alexander Gannon gegründete Wohltätigkeitsstiftung vermeintlich Gelder an unterschiedliche Projekte und Institutionen vergibt.
Desweiteren erfährt man Interessantes über den langwierigen Prozess der Seligsprechung, der hier Schwester Catherine gilt; und ein anderes Thema, das Mary Higgins Clark nicht zum ersten Mal aufgreift, ist die Medizin, vertreten durch die Kinderärztin Monica und den engagierten Gehirnchirurgen Ryan Jenner, der sich zu Monica hingezogen fühlt.

Alle diese Handlungsebenen verwebt die Autorin allmählich zu einem komplexen Ganzen, wobei sie es dem Leser nicht leicht macht, denn in den vielen kurzen Kapiteln, aus denen, charakteristisch für Clark, der Roman besteht, wechselt sie ständig die Perspektive, springt von einem Handlungsstrang zum nächsten, lässt den Leser den Charakteren über einen Großteil des Buches hinweg meist einen Schritt voraus sein, - und lässt doch noch so viel ungesagt oder komplett im Dunkeln, dass dieses scheinbare Eingeweihtsein der Spannung keinen Abbruch tut!
Und das macht der großen alten Dame, der Meisterin des gepflegten Thrillers mit Gänsehautelementen so schnell niemand nach!

Der einzige Kritikpunkt gilt so auch nicht der Autorin selbst sondern vielmehr dem deutschen, bisweilen doch sehr eigenwillig frei agierenden Übersetzer und dem Verlag, der sich für einen unsinnigen Titel entschieden hat, der so gar keine Verbindung zum Inhalt herstellt. Da erscheint mir der Originaltitel "The Shadow of Your Smile" doch wesentlich treffender zu sein!
Es lohnt sich übrigens, den Roman, sofern das möglich ist, so zu lesen, wie Mary Higgins Clark ihn gemeint hat, im Original nämlich!