Rezension

Familiengeheimnisse

Kleine Feuer überall
von Celeste Ng

Bewertet mit 5 Sternen

          Kleine Feuer überall“ ist Celest Ngs zweiter Roman nach ihrem hochgelobten Debüt. Die Familie Richardson  lebt in Shaker Heights, einem Vorort von Cleveland Ohio, wo fast ausschließlich Reiche leben. Auch die Richardsons sind ein gutsituiertes Ehepaar der oberen Mittelschicht. Bill ist Partner in einer Sozietät, Elena schreibt als Journalistin harmlose Artikel für eine kleine lokale Zeitung. Sie haben vier Kinder. Nur Isabelle genannt Izzy, die Jüngste, macht Probleme. Alles scheint perfekt in dieser Siedlung, wo alles geregelt ist, sogar der Fassadenanstrich.. Alles verläuft nach festgelegten Regeln. Elena hat dieses Prinzip verinnerlicht und duldet auch nach außen keine Abweichungen in ihrer scheinbar perfekten Familie. 
Eines Tages brennen in ihrem Haus kleine Feuer in sechs Schlafzimmern gleichzeitig. Die meisten Mitglieder waren zum Zeitpunkt des Ausbruchs abwesend. Nur Izzy ist und bleibt verschwunden. Hat die 15jährige die Brände gelegt und wenn ja warum? Oder hat die Mieterin einer Wohnung der Richardsons in ihrem geerbten Haus etwas damit zu tun? Mrs Richardson wollte ein gutes Werk tun, indem sie der mittellosen alleinerziehenden Fotografin Mia Warren und ihrer 15jährigen Tochter Pearl die Wohnung  überließ. Mutter und Tochter sind am Vorabend überstürzt ausgezogen.
Ein zweiter Konflikt spaltet seit einiger Zeit die Bewohner von Shaker Heights. Eine mittellose Chinesin hatte ihr Baby in einer extremen Notlage ausgesetzt, ein reiches kinderloses Ehepaar aus dem Freundeskreis der Richardson bemüht sich um die Adoption. Die Mutter, eine Arbeitskollegin von Mia, verlangt ihr Kind zurück. Ein Richter muss entscheiden, wer das Kind bekommt – die leibliche Mutter oder das reiche Ehepaar. Was zählt mehr? Biologie oder die materiellen Gegebenheiten? Mia und Elena stehen auf verschiedenen Seiten. Da Elena Mias Motiven misstraut, beschließt sie, Mias Vergangenheit zu erforschen und ihre Geheimnisse ans Licht zu bringen. Es erfüllt sie mit großem Unbehagen, dass ihre Kinder sich mit Pearl anfreunden und zunehmend unter den Einfluss der Mutter geraten. Sie sieht in Mias gegensätzlichem Lebensentwurf eine wachsende Gefahr für ihre eigene häusliche Idylle.
Die Geschichte wird aus wechselnden Perspektiven erzählt und enthält zahlreiche Rückblenden. Wie raffiniert die Erzählstruktur ist, zeigt sich, wenn Elena Mias Vergangenheit erforscht. Mias Vorgeschichte und künstlerischer Werdegang werden von einem allwissenden Erzähler in  aller Breite dargestellt. Was da berichtet wird, ist nicht das Ergebnis von Elenas Recherchen. Derselbe Erzähler gibt in Vorausdeutungen auch zahlreiche Hinweise auf die Zukunft.
Der sehr gut geschriebene Roman mit sorgfältiger Charakterisierung auch der Nebenfiguren spricht  mehrere wichtige Themen an. Es geht um die Bedeutung von Mutterschaft und die Beziehung von Müttern und Töchtern an gleich mehreren Beispielen, um Rasse und Identität, um die Macht von Geheimnissen, die in den Familien ihre zerstörerische Wirkung entfalten, um angepasstes und unkonventionelles Leben.
Sehr gelungen finde ich die im Titel und der Eingangsszene enthaltene Thematik des Feuers. Die realen Feuer werden auf der metaphorischen Ebene mehrfach gespiegelt. Elena war immer überzeugt, dass man die gefährlichen Feuer der Leidenschaft löschen muss, sonst werden sie zum Flächenbrand. Sie hat den Funken der Rebellion und alle weitergehenden Ambitionen frühzeitig in sich erstickt – zugunsten eines angepassten, strikten Regeln gehorchenden Lebens. An Mia Warren sieht sie, welche Chancen sie dadurch verpasst hat. Vor Schaden hat sie dieses Leben nicht bewahrt. Sie selbst hat letztliche das fragile Gebilde ihrer scheinbar perfekten Familie durch ihre skrupellosen Recherchen zum Einsturz gebracht. Mia gibt Izzy ihre Erkenntnis mit auf den Weg, dass man manchmal alles niederbrennen muss, um sich zu befreien und neu anzufangen. Ein bemerkenswerter, auch sprachlich hervorragender Roman.