Rezension

Fesselndes Spiel mit Zeiten und Identitäten

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt - Peter Stamm

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
von Peter Stamm

Bewertet mit 4 Sternen

„Nach einer Weile sagte sie, aber wie kann das sein? Wenn er ist wie Sie und ich wie Ihre Magdalena und wenn wir dasselbe Leben führen wie sie beide vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, [...] dann müsste die ganze Welt sich verdoppelt haben. Und das hat sie nicht. Nein, sagte ich, das hat sie nicht.“ (S. 80 f.)

Der ehemals erfolgreiche Schriftsteller Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viele Jahre jüngeren Schauspielerin Lena. Er möchte ihr seine Geschichte erzählen, möchte ihr erklären, warum er seit fünfzehn Jahren kein Buch mehr schreiben kann. Einen ganzen Tag und eine Nacht spazieren sie durch entlegene Winkel und Gassen der Stadt und nach und nach wird deutlich, dass Christophers Geschichte auch Lena betrifft, vielleicht sogar auch die ihre ist...

Peter Stamm entwirft in seinem neuen Roman ein Doppelgänger-Kammerspiel der feinsten Art. Er lässt den alternden Schriftsteller bei einer Lesereise in sein Heimatdorf auf sein jüngeres Alter Ego treffen, das exakt das gleiche Leben zu führen scheint, wie es Christopher damals tat. Der junge Chris ist ebenfalls Schriftsteller und verliebt in Lena, die Christophers damaliger Freundin Magdalena aufs Haar gleicht. Seit dieser Begegnung verfolgt er Chris, dessen Leben und Freundin Lena bis zu jenem entscheidenden Spaziergang und Gespräch in Stockholm...Ist das alles Zufall oder Bestimmung? Wie können vier Personen auf geheimnisvolle Weise über so große Zeiträume hinweg miteinander verbunden sein? Sind Chris und Lena Doppel- oder Wiedergänger seines und Magdalenas damaligen Lebens oder doch nur Trug- und Wunschbilder eines alternden, verrückten Mannes?

Dieser Roman beginnt märchenhaft und phantastisch, die ersten Seiten lesen sich wie im Traum und schon bald wird der Leser mitten hinein gezogen in diese verstörende, doppelte Doppelgänger-Geschichte, in dieses zarte Spiel um Zeiten und Identitäten. In seiner typisch lakonischen Art greift Peter Stamm große existenzielle Fragen auf und lässt sie am Ende – ebenfalls typisch – unbeantwortet. Stamm möchte keine vorgefertigten Lösungen liefern, sondern Fragen aufwerfen. Fragen, die bekannte Denkmuster entkräften und neue Wege zulassen.

„Gestalte ich mein Leben oder ist es mir nur zugestoßen? Letztlich ist es die Frage nach der Identität: Bin ich derselbe, als der ich geboren wurde, oder bin ich die Summe von all dem, was ich erlebt und getan habe?“  (Peter Stamm, Die Vertreibung aus dem Paradies)

Peter Stamm konstruiert sehr gekonnt ein Netz aus miteinander verwobenen Geschichten, aus Anfängen und Enden, die sich überlappen, die verwirren und dabei doch nahtlos ineinander übergehen. Es geht um die Brüchigkeit von Identitäten, um das Gestalten des eigenen Lebens, aber auch um das Schreiben und die Liebe und letztendlich um die Liebe zum Schreiben. Ist die Literatur nicht gerade dafür da, dass Menschen sich durch sie immer wieder neu erfinden können? Ich liebe Peter Stamms Art zu schreiben. Kein Wort ist zu viel und keines zu wenig. Statt Schachtelsätzen bekommt der Leser verschachtelte Zeit- und Erzählebenen. Trotz seiner 150 Seiten ist dieser Roman keine leichte Lektüre und lässt mich sehr nachdenklich zurück. Und doch fehlte mir etwas. Irgendwie ist dieser neue Roman seichter, ein wenig weniger radikal und langatmiger als seine früheren Werke wie „Agnes“ oder seine Kurzgeschichten.

Der neue Roman von Peter Stamm hat mich zuerst verwirrt, dann begeistert und auf jeden Fall zum Nachdenken angeregt! Ein wirklich feines Buch, das mit einer geistreichen Geschichte überzeugt und existenzielle Themen anschneidet. Für Stamm-Fans, die seine frühen Werke schätzen, könnte es allerdings ein wenig enttäuschend sein.