Rezension

Finanzielle Verstrickungen und wie das Leben dazwischen funkt

Weit weg und ganz nah - Jojo Moyes

Weit weg und ganz nah
von Jojo Moyes

Bewertet mit 5 Sternen

"Weit weg und ganz nah" ist eine Liebesgeschichte der besonderen Art. Die beiden Protagonisten könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein und doch verbindet sie etwas, das sie immer wieder zusammenbringt.

Es gibt zunächst zwei unabhängige Handlungsstränge:

Auf der einen Seite Jessica Thomas:
Jess ist alleinerziehend und lebt mit ihrer kleinen Mathematik-besessenen Tochter Tanzie und deren etwas absonderlichen Halbbruder Nicky sowie Norman, dem Riesenhund, in einem Sozialbauviertel in der Nähe von London am Rande des Existenzminimums. Der Vater der beiden Kinder ist beruflich gescheitert und depressiv geworden. Er lebt seit zwei Jahren bei seiner Mutter und steht der Familie "nicht zur Verfügung". Jess lebt trotz mehrerer Jobs von der Hand in den Mund, näht die Kleidung für ihre Tochter selbst und lässt sich im Pub begrapschen. Aber sie ist der Optimismus in Person und würde ALLES tun, um ihre Kinder glücklich zu machen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie voll und ganz hinter ihnen steht.

Auf der anderen Seite Ed Nicholls:
Ed ist Softwarespezialist und hat mit seinem Freund Ronan eine Firma gegründet, die innerhalb kurzer Zeit aufgestiegen ist wie eine Rakete. Er hat finanziell und materiell alles, was man sich nur denken kann. Leider läuft es privat nicht ganz so glänzend. Sein Vater ist krank, seine Ex-Frau nimmt ihn trotz Abfindung finanziell aus wie eine Weihnachtsgans und er muss Deanna, bei der er an der Uni erfolglos abgeblitzt ist, und die sich nun als Klette entpuppt hat, möglichst sanft wieder loswerden. 

Nun entwickeln sich die Dinge nicht so, wie man erwartet hätte. 
Tanzie soll auf eine spezielle Privatschule, die sich Jess nicht leisten kann - es sei denn Tanzie gewinnt einen Wettbewerb, der in Schottland stattfindet. Und Ed gerät durch eine dumme Entscheidung in kriminelle Machenschaften und muss untertauchen.
Die Lebenswege von Jess und Ed kreuzen sich wiederholt. Und das liebe Geld steht über allem. Auch über der Liebe?

Dieser Fragestellung widmet sich der Roman. Und das tut er ohne Klischees, ohne einen Mister Big und ohne Mitleid zu erregen. Die Protagonisten werden so dargestellt, wie sie sind. Mit ihren guten und ihren schlechten Seiten. Und die hat jeder - egal ob arm oder reich, benachteiligt oder privilegiert. Ob man optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft schaut, das ist keine Frage des finanziellen Wohlstands, sondern der persönlichen Einstellung und der sozialen Vernetzung.

Ich fand den Roman überraschend tiefsinnig. Es gab Parallelen zu "Ein ganzer halber Tag". "Weit weg und ganz nah" drückt aber nicht so sehr auf die Tränendrüse. Vielmehr geht es um banale Verstrickungen und deren Auflösung. Ich habe die Autorin wiedererkennen können, auch wenn die Romane sich primär ganz unterschiedlichen Themen widmen, und das fand ich gut. 

Anders als "Ein ganzer halber Tag" sehe ich "Weit weg und ganz nah" als nicht ganz so massentauglich. Man kann es nicht jedem empfehlen, da es extrem viele verbreitete Vorurteile gibt, die man loslassen muss, wenn man sich auf das Buch einlassen will. Sonst berührt es einen nicht und läuft einfach so vorbei. Bei der Thematik "Behinderung und Lebenswert" gab es diesen Haufen Vorurteile nicht, daher hat es einen "eiskalt erwischt". Dennoch fand ich persönlich beide Bücher ähnlich gut.