Rezension

Freunde fürs Leben

Und damit fing es an - Rose Tremain

Und damit fing es an
von Rose Tremain

Bewertet mit 5 Sternen

In Rose Tremains neuem Roman  steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen im Mittelpunkt. Gustav wächst bei seiner verwitweten Mutter Emilie im fiktiven Matzlingen im Schweizer Mittelland auf und ist im Jahr 1947 fünf Jahre alt. Eines Tages kommt ein neuer Junge in seine Vorschulklasse. Der kleine Anton ist untröstlich. Gustav kümmert sich vom ersten Augenblick an um ihn und wacht ein Leben lang über ihn. Beide verbindet trotz der unterschiedlichen Lebensumstände eine tiefe Freundschaft. Während Gustav in bitterer Armut aufwächst, ist Anton das einzige Kind einer kultivierten jüdischen Bankiersfamilie. Anton ist ein musikalisches Wunderkind. Alle sagen ihm eine große Karriere als Konzertpianist voraus, aber so wird es nicht kommen, weil Anton versagt, wenn er vor Publikum auf einer großen Bühne spielen muss. 
Rose Tremain erzählt die Geschichte der beiden Jungen und ihrer Familien in drei Abschnitten. Sie beginnt 1947 mit der Nachkriegszeit, geht dann ins Jahr 1937 zurück, als Emilie sich beim Schwingfest in den gutaussehenden Erich Perle verliebt und ihn heiratet und berichtet im dritten Abschnitt ab 1992 über Gustav und Anton in ihren mittleren Lebensjahren.  Gustav hat jahrelang erfolgreich ein Hotel geführt, aber privates Glück bleibt ihm versagt. Ein Leben lang hat er vergeblich um die Liebe seiner Mutter gekämpft und versucht, nach den Grundsätzen der verbitterten Frau zu leben. Sie hat seinen früh verstorbenen Vater als Held bezeichnet, ihm aber dennoch nie verziehen, dass er die Existenz der Familie dadurch zerstört hat, dass er Juden rettete, was ihn den Job bei der Polizei kostete. Erst spät im Leben erfährt Gustav die Geheimnisse seiner Eltern und kommt nach längerer Trennung wieder mit Anton zusammen, der nach einem Zusammenbruch die Erkenntnis formuliert:. “Wir müssen die Menschen werden, die wir schon immer hätten sein sollen.“ (‚S. 327)
Die Autorin beschreibt in ihrem sehr schönen Roman, der so ganz anders ist als alle anderen, die ich von ihr kenne, jedoch nicht nur private Schicksale, sondern bezieht den historischen Kontext sehr gelungen mit ein, vor allem die Position der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die Angst vor “Überjudung“ und vor einer deutschen Invasion. Sie zeigt, dass die vielgerühmte Neutralität auch als Feigheit gedeutet werden kann und ethisch nicht vertretbar ist, wenn dadurch Tausende jüdischer Flüchtlinge in den sicheren Tod geschickt werden. Erich Perle hat sich moralisch vorbildlich verhalten, auch wenn er dafür einen hohen Preis zahlen musste. Ein zweites wichtiges Thema ist der Umgang der Schweizer Banken mit jüdischem Vermögen, was – wie wir heute wissen - zu einem bleibenden Imageschaden geführt hat. 
Mir hat der Roman außerordentlich gut gefallen, und ich empfehle ihn ohne Einschränkung. Allerdings ist der deutsche Titel wie so oft ein völliger Fehlgriff. Der Originaltitel “The Gustav Sonata“ verweist nicht nur auf die Musik als durchgängiges wichtiges Thema, sondern stellt auch einen Bezug zur Struktur her, der im nichtssagenden deutschen Titel "Und damit fing es an" völlig verloren geht. Der Roman ist komponiert wie ein Musikstück mit drei Sätzen, wobei  im mittleren Teil die “Tonart“ gewechselt wird, denn hier erzählt die Autorin die Geschichte der frühen Jahre konsequent im Präsens.