Rezension

Freundschaft - ein ganzes Leben lang

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

Bewertet mit 4.5 Sternen

#ferrantefever

Verschwunden, nach 60 Jahren Freundschaft bleibt Elena nicht einmal ein Erinnerungsstück von ihrer besten Freundin Lila. So als hätte es sie niemals gegeben. Doch so leicht lässt Elena Lila nicht entkommen. Sie schreibt ihre gemeinsame Zeit auf, lässt die Jahrzehnte andauernde Freundschaft wieder aufleben und hält Lila so für immer in ihren Gedanken fest. Rückblickend erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend in Neapel der 50er Jahre, an das ärmliche Stadtviertel mit all seinen Bewohnern und die Träume zweier kleiner Mädchen auf eine bessere Welt.

Elena Ferrante entführt den Leser in ein kleines ärmliches Stadtviertel, Rione, genannt. Hier, in Neapel der 50er Jahre, wachsen die Schustertochter Raffaella Cerullo, genannt Lila und die Tochter eines Pförtners, Elena Greco, auf. Durch den einfühlsamen und trotzdem sehr starken Schreibstil wird man direkt in die Gassen des Viertels katapultiert. Man hört die seit Generationen zerstrittenen Familien miteinander zetern, sieht die Hausfrauen hinter geschlossenen Türen tuscheln und die Testosteron gewichtigen Solares-Brüder mit ihrem Fiat Millecento ihr Revier markieren. Zwischen all den Beschimpfungen, der Armut, Gewalt und dem vorherrschenden Patriarchat finden sich zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und kämpfen mit ihren Mitteln gegen ihr vorbestimmtes Leben an.

Zu Beginn werden die handelnden Personen aufgeführt, was auch dringend nötig ist, denn man begegnet ihnen allen auf einmal und muss sich im RIONE erst einmal zurechtfinden.

Gefesselt vom Einstieg, in der Erzählerin Elena Greco vom Kennenlernen der Mädchen im Jahr 1950 erzählt, wurde ich von der andauernden Langsamkeit der Erzählung überrascht. Fast schon minutiös wird die Schulzeit und das Leben im Viertel wiedergegeben.

Mit Beginn der Pubertät verändert sich der Erzählstil, wird vielschichtiger, lebendiger. Die Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt, als Lila nicht weiter zur Schule gehen darf, obwohl sie die Klassenbeste ist.

Elena: "Ich widmete mich dem Lernen und vielen anderen schwierigen Dingen, die mir fernlagen, nur um mit diesem schrecklichen, strahlenden Mädchen Schritt halten zu können."

Durch Elenas Sicht erfährt man, was Freundschaft im wirklichen Leben bedeutet. Sie besteht auch aus Konkurrenz, Neid, Bewunderung, Selbstzweifeln, Stärke und Angst.

"Es gibt keine Gesten, keine Worte, keine Seufzer, die nicht die Summe aller Verbrechen in sich bergen, die die Menschen begangen haben und begehen."

Am Ende überrascht Lila nicht nur ihre Freundin mit einer für sie völlig unerwarteten Entscheidung für ihr zukünftiges Leben. Sie, die bisher gegen alle geltenden Regeln angekämpft hat, scheint sich mit dem vorbestimmten Leben arrangiert zu haben.

Aber wer ist Raffaella Cerullo wirklich, hat Elena sie so in Erinnerung, wie sie gewesen ist? Im nächsten Band hoffe ich es zu erfahren.