Rezension

Gefühlsintesiv und augenöffnend

Kleine große Schritte
von Jodi Picoult

Wenn jemand fragen sollte, warum es wichtig ist, auch fiktive Geschichten zu lesen, dann nehmt diesen Roman von Jodi Picoult als Beispiel. Obwohl es sich um eine fiktive Erzählung handelt bezüglich der Hauptcharakteren, so sind diese doch sehr stark von realen Personen inspiriert und es ist wohl kaum zu leugnen, dass es sich um ein tatsächliches, wahres und alltägliches Problem handelt: Rassismus. Auf gefühls- und ausdrucksstarke Weise zeigt uns die Autorin einen Schneeballen, der zur Lawine wird, eine Geschichte, die man wohl kaum vergessen kann und sie lehrt uns, dass wir über Rassismus gar nicht oder noch immer ungenügend Bescheid wissen und reden.

Rassismus ist nicht nur ein Skinhead, der voller Hass und herausstehender, pulsierender Ader am Hals, die Hand zur Faust geballt, afroamerikanische Mitmenschen als dreckige N*** beschimpft. Rassismus ist nicht nur die Diskriminierung am Arbeitsplatz, wo weisse Angestellte in der Überzahl sind, besser verdienen und eher befördert werden. Rassismus ist auch das Privileg, sich über Rassismus kaum Gedanken zu machen, das Problem ignorieren zu können und keinen Gedanken daran zu verschwenden, warum man bevorzugt behandelt wurde (denn meist wird dies überhaupt nicht wahrgenommen). Wie oft bist du mit Freunden am Wochenende ausgegangen und auf dem Heimweg läufst du einer dunklen Gestalt über den Weg, jemand Unbekanntes. Ist deine Angst grösser, falls dieser Jemand schwarz ist? Männlich ist? Tätowiert ist? Wir alle haben Vorurteile und wir sind uns über einige bewusst, aber über viele auch unbewusst. Viele Vorurteile lernen wir mit der Erziehung, von den Eltern, den Lehrern, unserem Umfeld allgemein, Freunde, Nachbarn, Fernsehen, Radio, Internet... uns wird vorgelebt und gesagt, wie wir in xy Situation zu reagieren haben. Doch nicht immer hat das mit Manieren und gutes Benehmen zu tun. Wir lernen über den gleichen Kanal auch Vorurteile, unsichtbaren Rassismus. Wir Weisse sollten uns öfters über unsere Privilegien bewusst sein und dankbar dafür. Und damit meine ich alle weltweit, denn auch in den fortgeschrittensten Ländern, die Gleichstellung aller verschiedenen Personen zu leben scheinen, gibt es Rassismus. Einfach mal im Alltag genauer auf Details achten und ihr werdet schauen. Einmal bemerkt, könnt ihr es nicht mehr negieren.

Ich weiss nicht, wie oft mir die Tränen bei der Lektüre kamen, wie oft sich Wut durch meine Venen frass wie eine giftige Schlange. Vielleicht brauchte ich deshalb länger für das Buch, weil sein Inhalt trotz Fiktion so intensiv war, weil ich so oft den Blick heben musste, in die Ferne schweifen liess und kurz Luft holte von dem gerade Gelesenen. Die Emotionen sprudelten stetig und ab und zu spie die Erzählung wie ein Geysir mit heissem Wasser. Wer das Buch oder den Film "die Jury" kennt (Original: "a time to kill" mit Matthew McConaughey, Sandra Bullock und Samuel L. Jackson. Basierend auf dem gleichnamigen Buch von ), kann sich die Atmosphäre dieser Geschichte vorstellen. Auch hier geht es um einen schwierigen Gerichtsfall, Mordanklage, Rassismus und Medienrummel. Es geht um Schwarz gegen Weiss und doch geht es um so viel mehr und so viel anderes. In "die Jury" vergewaltigen zwei weisse betrunkene Männer ein schwarzes, 10-jähriges Mädchen und versuchen sie danach zu töten. Ihr Vater, traurig und wütend und zudem im Glauben, dass die Täter zu leicht davonkommen wegen ihrer weissen Hautfarbe, übt Selbstjustiz und landet vor Gericht mit einer Mordanklage. Ruth in Picoults Geschichte kommt in eine Situation, in der sie nur verlieren kann: entweder ihren Job, weil sie sich den Anweisungen widersetzt und das weisse Baby berührt. Oder sie verliert das Baby, weil sie ihm nicht versucht, das Leben zu retten... und auch ihren Job.

Beide Geschichten weisen viele Parallelen auf bezüglich der Themenebene, Konflikte und Rassismus im Alltag und vor Gericht, doch auch viele Unterschiede in den Handlungen. In beiden Fällen ist es allerdings augenöffnend und eine höchst wichtige Botschaft: Rassismus ist noch immer ein grosses, alltägliches Problem, für die einen mehr als für andere, aber für alle gleich betreffend! Dieser Roman ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein Appell an jeden Leser. Wie können wir die Welt etwas besser machen? Welche Vorurteile haben wir selbst? Wie können wir - bewusst über unsere Vorurteile - in verschiedenen Situationen reagieren, ohne zu kaschieren oder schönreden? Jodi Picoult geht sogar so weit zu behaupten, dass wir alle Rassisten sind! Auch  Gutmenschen, die schwarze Freunde haben. Auch Schwarze, die sich in der weissen Gesellschaft akzeptiert fühlen. Es gibt immer Situationen, in denen ein Schatten von Rassismus über dem Geschehen liegt, ein bitterer Beigeschmack von Vorurteilen, manchmal instinktive Reaktionen, denen wir selbst nicht bewusst waren.

Es ist nichts Neues, dass Jodi Picoult heisse Eisen für ihre Bücher wählt und genau deswegen liebe ich sie! Food for thought! Gedankenfutter, nicht nur Unterhaltung, sind ausnahmslos alle ihre Bücher. Das wage ich zu behaupten, ohne alle ihre Bücher zu kennen. Noch nicht, denn ich habe mir zum Ziel genommen, alle irgendwann zu lesen!
 

5 / 5 Sterne