Rezension

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Gefühlsvakuum trifft Schatzjägerin

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 4 Sternen

Vor einiger Zeit habe ich „Tyll“ gelesen. Von Daniel Kehlmann. Neben dem 30jährigen Krieg geht es bei Kehlmann auch um so etwas wie Kunst: Überlebenskunst, Gauklerkunst und ähnliches. Tyll verweilte einige Zeit als Hofnarr im Exil des Winterkönigs und dessen Königin, und er schenkte dem Königspaar eine leere Leinwand. Sie wurde in den öffentlichen Räumen aufgehängt und man ließ verkünden, dass nur nicht dumme Menschen das Gemälde darauf sehen, während die Dummen nur eine leere Leinwand sehen könnten. Manchmal war selbst das Königspaar verwirrt, ob sie nun zu den dummen oder nicht dummen Menschen gehörten. Aber alle bewunderten immer dieses wunderbare Kunstwerk an der Wand. Mir geht es heute manchmal mit der Kunst ähnlich. Ich bin nie sicher, ob ich die Dumme bin oder die anderen. Das kann manchmal amüsant und manchmal erschreckend sein.

Kunst ist auch in dem Roman von Anne Reinecke der Dreh- und Angelpunkt für die Hauptfigur. So scheint es zumindest. Karl ist Sohn eines berühmten und erfolgreichen Künstlerpaares und lebt seit seiner Kindheit „inkognito“. Das wollten die Eltern so. Er sollte ein normales Leben haben. So normal wie ein Leben eben sein kann, in dem man mit neun Jahren ins Internat gebracht wird und allmählich den Zugang zu den Eltern verliert, die sich selbst zusammen vollauf genügen. Logische Konsequenz nach dem Schulabschluss den Kontakt zu den Eltern gänzlich aufzugeben. Aber es steckt Künstlerblut in Karl. Er wird an der Kunsthochschule in Berlin angenommen und erarbeitet sich unter seinem eigenen Namen allmählich einen eigenen Stand in der Kunstwelt. Dann zwingt ihn der Selbstmord seines Vaters und die schwere Erkrankung seiner Mutter zurück in die Familienresidenz am Leinsee. Und es ist, als ob Karl erneut in seine Kindheit zurückspringt und nun erst die Chance hat wirklich erwachsen zu werden. Niemand versteht ihn so recht. Keiner kommt richtig an ihn heran. Wohl fühlt er sich nur in der Gegenwart eines unbekannten kleinen Mädchens, dem er den Kirschbaum im Garten schmückt und dessen Blick in seinem Nacken, ihn in der Welt zu halten scheint.

Mal so ins Grobe gesprochen, würde ich sagen, Anne Reineckes Roman polarisiert. Es ist schon mutig, sich als Hauptfiguren ein Kind und einen Erwachsenen zu wählen, die am Ende, als beide erwachsen sind [Achtung Spoiler!] eine Liebesbeziehung eingehen. Und dann diese Wahl der Perspektive. Die Geschichte erzählt sich gänzlich eingefärbt aus Karls Sicht. Doch wie sehr können wir seinem Blick trauen? Ist es nicht ein verzerrtes Bild auf die Welt vor seinen Füßen? Über die Beweggründe der anderen Figuren erfahren wir nur das, was Karl weiß und sich zusammenreimt. Eine ganz schlechte Grundlage, um wirklich eine ausgewogene Interpretation der Geschehnisse vorzunehmen. Es bleibt nur Spekulation, warum das Kind Tanja die Nähe zu Karl sucht, warum sie als Jugendliche in seiner Nähe bleibt, mit ihm intim wird. Ob sie in ihn verliebt ist oder nur mit ihm spielt, die eigenen weiblichen Reize austestet. Es bleibt unklar, ob die Eltern in ihrer symbiotischen Beziehung den Sohn je vermisst haben. Ihn je geliebt haben? Karl ist eine furchtbare literarische Figur. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihn sympathisch, durchgeknallt, bescheuert, beziehungsunfähig und und und finde. Wahrscheinlich alles zusammen. Ich finde durch die Erzählsprache keinen Abstand zu ihm, kann ihn schlecht von außen betrachten und nur ahnen, wie es ihm geht, wenn er in der Lage wäre, klare Worte für seine Gemütszustände zu finden. Klare Worte, die mich erreichen. Aber Karl muss sich nicht um mich kümmern. Er hat einige wenige Menschen, die ihn erreichen, mit denen er sich wohl fühlt. Ihm ist egal, wie ich das finde.

Reineckes Sprache ist großartig. Sie hat einen ganz eigenen sprachlichen Stil für Karl gefunden. Tolle Bilder, die anklingen, wie einzigartig jeder die Welt und sich darin wahrnimmt. Die Kapitel sind durchgängig mit Farbzuschreibungen betitelt, wie kleine farbige Gefühlsanker, die ankündigen, wie Karl gerade zumute ist.

Mir gefällt Reineckes Umgang mit den Figuren sehr. Ich mag es, dass sie mir viel Spielraum in meiner Einordnung des Gelesenen lässt und dennoch selbst auch klare Zuweisungen trifft, sich nicht darum schert, was man zwischenzeitlich unaussprechliches vermuten könnte, sondern man ihrem Erzählweg anmerkt, dass er seine eigene Richtung eingeschlagen ist. Sie bleibt ganz dicht bei ihrer Hauptfigur, lässt sich nicht ablenken, auch wenn es wehtut. Für die Geschichte ist es genau richtig so.