Rezension

Gehaltvoller Snack

Der große Bruder
von Esther Gerritsen

Bewertet mit 3 Sternen

Wie geht man damit um, wenn einen mitten im schnöden Alltag ein Notruf ereilt? Olivia gerät vollkommen aus dem Konzept. Seit Jahren hat sie ihren Bruder nicht gesehen, da ruft er sie aus dem Krankenhaus an mit einer Hiobsbotschaft. Möglicherweise wird gleich sein Bein amputiert. Er hat seine Zuckerkrankheit zu lange ignoriert und das ist die Quittung.

Sie waren schon immer ganz verschieden und konnten wenig miteinander anfangen. Während Olivia vernünftig, zielstrebig Gefühlsduseleien verabscheut, lässt sich Marcus treiben, zieht von Ort zu Ort und ist nah am Wasser gebaut. 
Als sich Marcus plötzlich in einer dramatischen Ausnahmesituation befindet, ist dann doch Blut dicker als Wasser. Olivia nimmt ihn mit zu sich nach Hause und ist zum ersten Mal seit Jahren gezwungen, sich auf ihn einzulassen. Andere Menschen mögen ihn, ihren chaotischen Bruder.

Sehr plakativ liegt hier das Thema auf dem Tisch. Sind wir, wie wir sind und das ist auch gut so? Oder sollte man vielleicht doch gelegentlich den Horizont erweitern, Neues ausprobieren? Haben unterschiedliche Lebensmodelle nicht vielleicht unterschiedliche Qualitäten? Und was bedeutet Familie? Ist die Familie ganz selbstverständlich der Anker, der einen hält in kritischen Zeiten? 

Dieses Buch ist kurz, sehr kurz sogar. Es liest sich leicht, die Seiten fliegen dahin. Und am Ende denkt man dann: Aha. Nicht mehr und nicht weniger. 
Der Stil ist schlicht. Der im Klappentext erwähnte Humor ist mir entgangen.

Ja, es lässt einen nachdenken über Dinge, die durchaus nachdenkenswert sind, nur berührt es nicht sehr, dazu ist es zu schnell vorbei. Es bietet einige spannende Ansätze, die angerissen aber nicht vertieft werden. Da ist z. B. die hübsche Parallele: Olivias Job ist es, ein marodes Familienunternehmen zu sanieren. Während die älteren Familienmitglieder die desaströse Lage ignorieren, halten die Jüngeren eine Geschäftsaufgabe für die beste Option. Und wenn dann der alte Firmenpatriarch mit Marcus angeln geht, winkt die Moral meilenweit mit dem Zaunpfahl.

Für so viel Botschaft hätte ich mir mehr Gerüst gewünscht. Hier bekommt man mehrere Familiengeschichten im Schnelldurchlauf. Die grundsätzlich spannenden Figuren bleiben schemenhaft. Selbst Olivia kommt man nicht wirklich nahe.
Ich denke, dieses Buch hätte den doppelten Umfang gebraucht, um diese doch recht große Idee zu verarbeiten. 
So ist es ein kleiner Snack, der den Appetit anregt, der aber durchaus die Zutaten für ein Gala-Diner gehabt hätte. Am Ende liegt es ein bisschen schwer im Magen.