Rezension

Geister, deren Lächeln tötet....

Phantasmen - Kai Meyer

Phantasmen
von Kai Meyer

„Phantasmen“ ist ein alleinstehender Roman vom deutschen Fantasy-Autor Kai Meyer, der sich inhaltlich am ehesten in den Bereich der Paranormal Fantasy einordnen lässt und mich als großen Fan der Arkadien-Trilogie sowie anderer Bücher des Autors, wie etwa „Hex“, natürlich brennend interessierte.

Vorab kurz einige Worte zum Inhalt: Tag Null, der Tag an dem die ersten Geister auftauchten, ist rund eineinhalb Jahre her. Seitdem wird jeder Verstorbene eine transparente Erscheinung aus Licht, die still am Ort ihres Todes verharrt und der Sonne hinterher schaut. Außerdem erscheinen jeden Tag nach einem festen Muster auch die Verstorbene vergangener Zeiten. Genau das machen sich die neuzehnjährige Rain und ihre jüngere Schwester Emma zunutze, um ihre Eltern, die vor drei Jahren bei einem Flugzeugabsturz in der Wüste Spaniens ums Leben kamen, noch einmal zu sehen und Abschied zu nehmen. Doch in dieser Nacht verändern sich die Geister – sie lächeln. Und ihr Lächeln ist tödlich.
Der junge Norweger Tyler, dessen Freundin Flavie ebenfalls im Flugzeug war, rettet die beiden aus der Wüste, zieht sie dabei aber gleichzeitig hinein in eine gefährliche Jagd, die sie dem Ursprung der Geister näher bringt…

Die Grundidee, unsere „normale“ Welt um diese harmlos herumstehenden, leuchtenden Geister zu erweitern, hatte mir direkt gefallen. Die Menschen gewöhnen sich an sie, auch wenn ihr hell scheinendes Totenlicht gerade in den Großstädten und in den Häusern zur Belastung wird – und stetig werden es mehr Geister, auf der ganzen Welt. Der Autor setzt diese Idee tatsächlich auch wunderbar um. Die Geister sind der Mittelpunkt der Geschichte, ihre Präsenz ist allgegenwärtig und es fällt dem Leser durch die ausdrucksstarken Beschreibungen im flüssigen Stil von Kai Meyer nicht schwer, sich diese Welt voller Lichter durchgehend bildlich vorzustellen und darin einzutauchen.

Auch die weltumspannende Handlung, die auf diese Grundidee aufbaut, hat für mich bestens funktioniert. Sie ist spannend, mitreißend und konsequent in der Umsetzung, was – und darauf sollte sich der zukünftige Leser dann auch einstellen – im Falle eines tödlichen Lächelns von Millionen Geistern eine beträchtliche Reduktion der Weltbevölkerung bedeutet. Kurz: In diesem Roman wird gestorben und das nicht zu knapp. Es passt allerdings zur Geschichte und ist dadurch ein probates Mittel, die paranormalen Ursprünge mit einem endzeitlichen Szenario zu vermischen, wie es die Grundidee nach logischen Gesichtspunkten auch einfordert.

Zwar muss man eingestehen, dass es im Laufe der Handlung ein, zwei Situationen gibt, die nicht hundertprozentig überzeugen, und dass zusätzlich dazu einige Aspekte ausführlichere Erklärungen oder ein näheres Eingehen auf unmittelbar beteiligte Personen bedurft hätten, um die Geschichte vollständig abzurunden, aber insgesamt präsentiert sich „Phantasmen“ als nachvollziehbare, spannende, fast Thriller-artige Idee, die trotz kleiner, der Kürze und Schnelligkeit der Erzählung geschuldeter Lücken, zu einem gelungenen Abschluss gebracht wird. Das hohe Spannungsniveau, die atemberaubende Action und ein mitreißender Handlungsverlauf, der kaum zulässt, dass man das Buch längere Zeit zur Seite legt, entschädigen außerdem für einiges.

Ein bedeutenderer Knackpunkt in der Geschichte waren für mich die Charaktere. Genaugenommen nur einer der Charaktere. Während der Norweger Tyler ganz interessant war, sodass man gerne noch etwas mehr von seiner und Flavies Geschichte erfahren hätte, und auch Emma, die jüngere der beiden Schwestern - möglicherweise hochbegabt dafür aber teilweise mit sozialen Defiziten - eine vielschichtige Figur darstellte, war es ausgerechnet die Ich-Erzählerin Rain, die mir in diesem Roman wie ein Fremdkörper erschien.

Nach „Arkadien“ war ich gar nicht überrascht, dass auch in „Phantasmen“ ein schwieriger, leidgeprüfter Charakter im Mittelpunkt stand, und vielleicht hätte Rain tatsächlich auch eine überzeugende Entwicklung durchmachen können – in einem anderen Roman. Einem Roman über sie, über ihre Geschichte, über Afrika, in dem sie ihre rebellische Ader voll ausleben könnte, in dem sie ihre „Alles-ist-Mist“-Einstellung mit sich allein ausmachen könnte und in dem ihre feuerroten Dreadlocks mehr Aufmerksamkeit bekommen hätten, als in dieser Geschichte, in der eigentlich die Geister im Mittelpunkt standen.

In „Phantasmen“ empfand ich sie als störend. Ihre schicksalhafte Vergangenheit, die zunächst angedeutet, später aufgeklärt wurde, hatte für die eigentliche Handlung leider keine Bedeutung, ihr Hang zur Streiterei in den unmöglichsten Situationen hat mir den letzten Nerv geraubt und zu guter Letzt ist die zwanghafte Art, mit der sie ihre jüngere Schwester beschützen will, obwohl diese mit ihren siebzehn Jahren die Situationen immer viel deutlicher erfasst als Rain selbst, bei mir schnell nur noch auf Unverständnis gestoßen. Sie ist nicht lernfähig, wiederholt ihre unangenehmen Eigenschaften wie auf Knopfdruck – nein, ich habe Rain nicht verstanden, sie war mir zu wenig zugänglich. Da sie dann für die eigentliche Geschichte, anders als Tyler und Emma, auch noch ohne Bedeutung ist, hatte ich Probleme damit, sie ausgerechnet als Hauptfigur zu akzeptieren, was mir ansonsten bei unsympathischen, aber vielschichtigen Charakteren nicht schwer fällt – ich würde sogar behaupten, dass ich eine leichte Vorliebe für die komplizierten Charaktere habe. Rain allerdings war einfach nur ein Störfaktor. Eine schwesterlose Figur mit Emmas Eigenschaften und Tyler allein hätten „Phantasmen“ meiner Meinung nach interessanter gestalten können.

Fazit: Trotz kleiner Lücken in der Erklärung des Geisterphänomens bietet „Phantasmen“ unterhaltsame paranormale Fantasy auf hohem, actionreichen Spannungsniveau. Kai Meyers Schreibstil und die durchdachte Handlung überzeugen. Leider ist es ausgerechnet die schwierige Hauptfigur Rain, die sich nicht in das Gesamtbild einfügen will und stattdessen störend wirkt. Wer irrationale Ich-Erzählerinnen tolerieren kann, wird vielleicht noch etwas mehr Freude an diesem Roman haben. Ich vergebe knappe vier (3.5) Sterne – obwohl ich „Phantasmen“ kaum zur Seite legen konnte, habe ich keinen Zugang zur rebellischen Rain gefunden.