Rezension

Gelungener zweiter Teil

Die Geschichte eines neuen Namens - Elena Ferrante

Die Geschichte eines neuen Namens
von Elena Ferrante

Bewertet mit 4 Sternen

Im Sommer letzten Jahres brach es aus, oder wurde vielmehr allerorten beschworen – das Ferrante-Fieber! In allen erdenklichen seriösen oder weniger seriösen Medien, die sich auch nur im entferntesten mit Büchern beschäftigen, wurde „Meine geniale Freundin“ besprochen und vorgestellt und dabei äußerst offensiv beworben. Der Erfolg blieb nicht aus, das Buch gelangte sehr bald und dauerhaft in die Bestsellerlisten.

Ich stand diesem Phänomen etwas ratlos gegenüber. Erwartungen wurden geweckt, die selten realistisch sind, andererseits Abwehrmechanismen aktiviert, die dem objektiven Urteil auch kaum nutzen können.

Das Buch konnte durchaus unterhalten, zeichnete zumindest ansatzweise interessante Figuren und eine gut entwickelte Geschichte. Zudem wurde die Spannung gehalten und mit einem ungeheuren Cliffhanger geendet. Trotzdem konnte von einem Fieber bei mir keine Rede sein.

Ein wenig zögerte ich deshalb vor der Lektüre des zweiten Bandes, zumal über 600 Seiten zu bewältigen waren. Schließlich siegte aber doch die Neugier, die der erste Teil doch erfolgreich geweckt hatte. Außerdem kam mir zu Ohren, dass sich die Tetralogie steigern sollte.

Also, „Die Geschichte eines neuen Namens“. Zunächst gleicht sie der genialen Freundin sehr. Eine Art „Rahmenerzählung“ wird gestrickt (im ersten Teil war es die Mitteilung an die nun über 60 Jahre alte Ich-Erzählerin Elena, oder auch Lenu genannt, dass ihre langjährige Jugendfreundin Lila spurlos verschwunden ist, die die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit in Gang setzt):  hier erinnert sie sich an die Schachtel mit persönlichen Aufzeichnungen, die ihr die Freundin einst, im Jahr 1966 anvertraut hatte und aus denen sie nun neben eigenen Erinnerungen die Jugendjahre der beiden Freundinnen bis ca. Mitte 20 rekonstruiert.

Wer den ersten Band gelesen hat (und das sollte man unbedingt vorher tun), erinnert sich, dass dieser abrupt an Lilas Hochzeitstag endete, und zwar mit einem Eclat. Lila entdeckte, dass ihr Mann heimlich gemeinsame Sache mit den ihr zutiefst verhassten Camorra-Brüdern Solara machte. Der Anfang der Ehe, in die sich Lila mit 16 Jahren stürzte, um aus den äußerst bedrückenden Verhältnissen ihres Elternhauses in einem der heruntergekommenen Viertel („rione“) Neapels zu fliehen, barg zugleich ihr Scheitern.

Zwar kann der erfolgreiche Lebensmittelhändler Stefano ihr nun ein Leben in relativem Wohlstand bieten, aber ein wirkliches Entkommen aus den Verhältnissen, wie ihn sich die beiden Mädchen erträumten, bietet sich Lila dadurch nicht. Stefano zeigt als Ehemann das vertraute Verhaltensmuster aller Männer aus dem „rione“: Despotie, Machismo, Verachtung und Missbrauch der Frauen, Gewalt. Erschreckend als wie naturgegeben die Frauen und Mädchen hier ihr Schicksal annehmen, zwar mit Verachtung, Hysterie und vor allem Boshaftigkeit ihren Geschlechtsgenossinnen gegenüber zeitweilig aufbegehren, aber nie wirklich einen Ausweg finden oder auch nur suchen. Wie auch, wenn sie sich alle in gnadenloser finanzieller wie gesellschaftlicher Abhängigkeit zu ihren Männern befinden. Der Ausweg aus ihren ungeliebten, oft auch bereits durch Gewalt, vor allem aber auch durch Bitterkeit gekennzeichneten Elternhäusern, den die Mädchen hier in einer Ehe sehen, wird für sie durchweg, spätestens nach der Geburt des ersten Kindes, zu einer selbstgestellten Falle. Nicht nur Lila, sondern auch fast alle ihre Freundinnen geraten in viel zu frühen Jahren hinein. Aus der anfänglichen Liebe wird schnell die Ehehölle. Immer wieder fragt man sich, wie Menschen so miteinander leben konnten (können).

Die rebellische, intelligente Lila sieht ihren Fehler schnell ein und entzieht sich ihrem Mann immer mehr, geht eine leidenschaftliche, aber genauso desaströse Affäre ein (der Geliebte flüchtet, wie könnte es anders sein, als sie schwanger wird), kehrt zunächst zu ihrem Mann zurück, trennt sich dann aber endgültig mit Hilfe eines alten Schulfreundes. Aber auch hier natürlich kein Happy-End. Geächtet von der Umgebung im „rione“, sogar der eigenen Familie, lebt Lila in ziemlichen Elend.

Hier wird so ziemlich alles demontiert, Liebe, Ehe, Familie, Freundschaft. Auf alle diese (glücksverheißenden) Institutionen wird mit einem äußerst scharfen Blick geschaut. Die Menschen im „rione“ haben schlicht zu viel mit ihrem schweren Alltag zu tun, haben es auch nie gelernt, mit ihnen sorgsam umzugehen. Noch deutlich mehr als im ersten Buch geht es hier auch um die Stellung der Frau, ihre Missachtung in der Gesellschaft, ihre Befreiungsversuche. Dabei kommen aber die Frauen selbst genauso schlecht weg wie die Männer. Das System ist es, wo der Wurm drin steckt.

Und hier hat mich das Buch zunehmend gepackt. Sicher hat die Thematik durch das gestiegene Lebensalter der Mädchen an Brisanz gewonnen, endlich kommen auch zeitpolitische und soziale Aspekte hinein, die vorher, vielleicht dem kindlichen Alter der Protagonistinnen geschuldet, eher fehlten. Die Frauenfrage, soziale Umstände, Bildungspolitik. Denn da gibt es natürlich neben Lila noch die Ich-Erzählerin, die mit ihr in Freundschaft, aber auch in ständiger Rivalität und Missgunst verbunden ist. Gerade im ersten Band eine Freundschaft zum Abgewöhnen. Aber auch das macht einen großen Reiz der Bücher Elena Ferrantes aus: Wie ungeschönt, schonungslos und offen diese Lenu selbst über ihre übelsten Gefühle und Gedanken schreibt.

Lenu nun geht, obwohl eigentlich weniger begabt als Lila, durch ein wenig Glück, aber vor allem durch großen persönlichen Ehrgeiz befördert, einen anderen Weg. Sie bleibt bis zum Abitur auf der Schule, studiert danach sogar in Pisa und kann sich schließlich den großen Traum erfüllen: ein Roman von ihr wird veröffentlicht.

Zwischenzeitlich plagten aber auch sie Ängste. Während die Freundin im schönen Heim mit Mann und eigenem Geschäft lebte, erlebte sie nur unschöne Fummeleien mit ihrem Freund an verbotenen Orten, wurde ihr immer wieder ihre dem Lernen, dem Lesen geschuldete Einsamkeit um die Ohren gehauen. Auch sie ist ein Mädchen des „rione“, auch sie nicht ganz frei von den dort geltenden Verhaltenscodices, deren erster ist, sich als Frau möglichst bald einen Mann zu suchen. Auch stößt sie trotz all ihrer Lernerfolge immer wieder an Grenzen, die durch ihre Herkunft bedingt sind, fühlt sich oft nicht ganz dazu gehörig in der Welt der Bürgerlichen.

Auch dieser zweite Band der Tetralogie endet mit einem Cliffhanger. Unmöglich sich der Spannung zu entziehen, wie es weiter geht. Zumal nach anfänglichem Zögern mich die Figuren nun tatsächlich gepackt haben, sie so vertraut geworden sind wie das Personal manch einer Fernsehserie, mit der die Bücher Ferrantes tatsächlich einiges gemeinsam haben. Es ist nun nach über 1000 Seiten einfach nicht mehr egal, wie der Weg der beiden Freund/Feindinnen weiter verläuft. Das Fieber beginnt zu steigen.

Dabei sind die Bücher äußerst kunstlos geschrieben. Sie sind gut lesbar, bieten aber keine sprachlichen Höhepunkte. Viel Raum erhalten Dialoge, die auch, dem Milieu entsprechend, recht derb verlaufen können. Den Männern des „rione“ fällt oft nichts anderes ein, als ihren Frauen „die Fresse einzuschlagen.“ Manchmal irritiert diese äußerst anspruchslose Sprache und auch die manchmal leicht dümmliche Perspektive der Ich-Erzählerin. Ja, sie stammt aus einfachsten Verhältnissen, aber immerhin schreibt sie aus dem Alter rückblickend, als studierte Frau, als erfolgreiche Schriftstellerin. Das hat mich im ersten Band aber deutlich mehr gestört, ebenso die eher problematischen Charaktere eigentlich durchweg aller Protagonisten. Und das sind sehr viele. Dem Buch ist zum Glück ein ausführliches Personenregister vorangestellt und in einer Kurzfassung als Lesezeichen beigelegt. Auch für fortgeschrittene Ferrante-Leser äußerst hilfreich.

Die Irritationen halten in „Die Geschichte eines neuen Namens“ aber nie lange an. Zu interessant sind die soziologischen Beobachtungen, zu gekonnt das Jonglieren der Autorin mit der Zeit (manch Abschnitt, wie ein mehrwöchiger Ischiaurlaub, wird auf mehr als 200 Seiten gestreckt, Jahre dann wieder auf nicht mehr als 20 oder 30 eingedampft), zu interessant die Verknüpfungen mit Personennetz. Und, das darf man auch nicht vergessen, zu erwähnen: Elena Ferrante kann enorm gut mit Spannung umgehen. Deshalb wird das Ferrante-Fieber wohl diesmal mindestens bis Mai dieses Jahres anhalten. Da soll der dritte Teil erscheinen. Und ich habe läuten hören: Der soll noch besser sein.