Rezension

Genialer Auftakt

Die Königin der Schatten
von Erika Johansen

Bewertet mit 4.5 Sternen

Es hat etwas gedauert, aber nun habe auch ich mich von den überwiegend positiven Rezensionen zum Lesen von "Die Königin der Schatten" verleiten lassen - und jetzt bin ich süchtig. Die Auftakt hat es mir angetan (Band 2 liegt schon griffbereit), was dem atmosphärischen Erzählstil der Autorin, dem fantastischen mittelalterlich-anmutenden Setting, den komplexen, abwechslungsreichen Figuren und dem zugrundeliegenden Plot, der bisher noch alles offen lässt, zu verdanken ist. Kurzum: Das Gesamtpaket ist einfach gelungen. Anfangs hat mich die Story ein klitzekleines bisschen an Sophie Jordans "Königreich der Schatten" erinnert, von dem ich leider nicht besonders überzeugt war. Aber nach nur wenigen Seiten war klar, dass Erika Johansen einen ganz anderen Weg beschreitet - zum Glück!
Ich finde, eine Geschichte steht und fällt (mal abgesehen vom Plot) mit ihren Figuren. Hier hat Johansen ein gutes Gespür bewiesen, denn sie liefert sehr vielschichtige und damit interessante Charaktere, allen voran Kelsea. Zunächst einmal war es erfrischend für mich, mal keine umwerfende Schönheit als Protagonistin zu haben, sondern eine optisch unscheinbare junge Frau. Dafür hat sie andere Qualitäten: Sie ist ein faszinierender Mix aus kindlich-jugendlicher Unerfahrenheit, Naivität und Übermut sowie majestätischer Erhabenheit und entsprechendem Durchsetzungsvermögen. Sie ist nicht gerade auf den Kopf, geschweige denn auf den Mund gefallen, hat Feuer und beweist Kampfesgeist und Rückgrat. Die Weitsicht fehlt ihr allerdings zuweilen, denn gleich ihre erste Aktion als (noch ungekrönte) Königin ist zwar unglaublich human und zeigt ihren einfühlsamen, gütigen Charakter, aber sie ist auch recht unbedacht, wie sie schon bald feststellen wird. Sie hat es zwar damit geschafft, das Volk für sich einzunehmen, aber die Konsequenzen, die ihr Handeln auf Dauer nach sich ziehen wird, sind von katastrophalem Ausmaß. Es wird sich zeigen, ob ihre Entscheidung so klug war und ob und wie sie sich und ihre Untertanen aus der Misere befreien kann. Für mich ist aber schon jetzt klar, dass sie das Potenzial zu einer wahren Herrscherin und echten Heldin hat.
Auch von Mace, dem Anführer ihrer Eskorte, bin ich ein absoluter Fan, wenngleich es ein wenig länger gedauert hat, bis er mein Herz erweichen konnte. Er ist wortkarg, grummlig und nicht besonders humorvoll, aber scharfsinnig und wachsam und verteidigt Kelsea mit seinem Leben. Er ist wie der Vater, den sie nie hatte (und vielleicht ist er das ja auch - wer weiß?!). Auch die übrigen Soldaten, beispielsweise Kelseas Leibwache Pen, finde ich soweit vielversprechend.
Neben Kelseas Perspektive gibt es noch die der Roten Königin, die ich - unnötig es zu sagen - nicht ausstehen kann, aber bei der es mich gleichzeitig interessiert, was es mit ihr auf sich hat, sowie des Torwächters Javel. Bei ihm bin ich besonders gespannt, welche Rolle er noch spielen wird. Die Rote Königin ist übrigens nicht die Einzige, die eine Bedrohung für Kelsea darstellt, denn sie hat sich schon jetzt ein paar widerliche, blutrünstige Feinde gemacht. Ich denke, sowohl die omnipräsente Lebensgefahr (bisweilen geht es ziemlich blutig zu) als auch die diversen Überraschungsmomente haben erheblich dazu beigetragen, dass ich voll und ganz auf den Roman fokussiert war. Ich muss allerdings zugeben, dass mir der Anfang weniger zugesagt hat, aber das Durchhalten hat sich wirklich gelohnt, weil es, nachdem einmal Bewegung in die Handlung gekommen ist, fast immer etwas für Kelsea zu tun gab. Wenn sie sich nicht gerade um Komplotte gegen sie sorgen muss, muss sie sich eine Strategie zurecht legen, um das wirtschaftlich zugrunde gerichtete Land wieder zum Erblühen zu bringen. In der Hinsicht gab es noch nicht allzu viel zu erfahren, aber die Grundsteine sind schon gelegt.
Zum Schluss sei noch erwähnt: Es gibt keine Liebesgeschichte - zumindest noch nicht. Somit lenkt auch nichts vom Wesentlichen (der Besteigung des Throns und der Vernichtung der Roten Königin) ab. Ich gebe zwar gerne zu, dass ich es ganz gerne mag, wenn ein bisschen Romantik und Herzschmerz enthalten sind, aber sie sollten - gerade in solchen Geschichten - eine untergeordnete Rolle spielen. Die rührenden Loyalitätsbeweise ihrer Garde, speziell die von Mace, waren für mich hier vollkommen ausreichend. Wer braucht da schon Liebesbekundungen?!

Fazit
Johansen hat einen spannenden, blutigen, dynamischen Auftakt mit starken Charakteren und massig Entfaltungsmöglichkeiten geschaffen, der mich so gefangen genommen hat, dass ich unbedingt weiterlesen will.

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