Rezension

Großartig!

Der Hydrograf - Allard Schröder

Der Hydrograf
von Allard Schröder

Bewertet mit 5 Sternen

Die großen Erzähler haben Hochkonjunktur! "Allard Schröder, geboren 1946 in Haren, ist Autor von Romanen, Novellen und einem Lyrikband. Der Hydrograf, sein dritter Roman, wurde 2002 mit dem AOK Literatuurprijs ausgezeichnet". (Klappentext).

1913. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Franz von Karsch-Kurwitz steht vor der Ehe mit der reizlosen Agnes. Da packt er seine Koffer und Messgeräte und schifft sich auf der Posen ein, einem Frachtschiff, das von Hamburg nach Valparaíso unterwegs ist. Mit ihm an Bord sind zwei andere Passagiere, einer stößt wenig später dazu, unerhört, es ist eine alleinreisende Frau. Sofort geraten die drei Männer in seltsame Wallungen.

Dieser Roman besticht durch seine Atmosphäre und seine Protagonisten, die nicht so sehr als Individuen interessant sind, obgleich sie individuelle Züge tragen, sondern als Stellvertreter ihrer sozialen Schicht fungieren und dabei jeweils einen besonders degoutanten Zug beleuchten: Da ist Franz von Karsch-Kurwitz selber, der sich als Adeliger damit belustigen kann, sich der Wissenschaft, nämlich der Vermessung der Wellen, hinzugeben, da er sich, aus begütertem Elternhaus, um den Broterwerb nicht zu kümmern braucht.

Franz tut generell, was von ihm erwartet wird. Dazu ist er erzogen worden. Pflicht, Pflicht und wiederum Pflicht. Doch er hat sich kleine Parzellen abgesteckt, wo er sich nicht hineinreden lässt. Darauf ist er stolz, obwohl er immer wieder merkt, dass die daraus resultierenden Handlungen, z.B. Pazifismus, zwar die richtigen sind, aber aus den falschen Motiven heraus geschehen. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, eine edle Gesinnung, die zu seinem Stand passen würde, er sucht sie bei sich vergeblich. Sein Verhältnis zu Frauen ist schwülstig, er kennt nur Hure oder Heilige. Wie man Sexualität in seinen Kreisen lebt, verwirrt ihn. Seine Arbeit, die ihm zunächst Sinn verleiht, wird ihm zunehmend nichtig, weil austauschbar. Genau so gut hätte er sich mit der Schmetterlingssammlung seines Vaters beschäftigen können, den er für diese Tätigkeit immer verachtet hat.

Der Intellektuelle an Bord, dessen schweres Vergehen heute keines mehr ist, macht sich über Franz und seine Klasse, der er seinen Untergang verdankt, zu recht lustig. Mit seinen Vergleichen und Denkanstößen bringt er Franz auf der Schiffsreise ins Nachdenken, was sich zum Ende der Reise hin so auswirkt, dass er versucht, seinen Einsichten gemäß, nämlich verantwortungsbewusst zu sein, zu leben und nicht vor allem zu kneifen, die für richtig erkannte Theorie in die Tat umzusetzen, doch er scheitert auf dem Weg zur Praxis an allen Ecken und Kanten. Bleibt symbolhaft als tiefe Enttäuschung über sich und seine Klasse die Schmetterlingssammlung seines Vaters, es ist der buchstäblich aufgespießte Traum vom aufregenden, leichten und gelingenden Dasein, die ihn bis zum Ende seines Lebens daran einnert und begleitet.

Ganz anders der verachtenswerte Moser, ein langweiliger Kleinunternehmer ohne Bildung und Erziehung, der eine neue Zeit heraufdämmern fühlt, der sich mit den Misserfolgen und Erfolgen seines Lebens schnörkellos auseinandersetzt und das Leben klaglos nimmt, das sich ihm bietet.

Cherchez la femme: Das Frauenbild Anfang des 20. Jahrhunderts ist noch muffig. Erfolgreiche, selbstbestimmte Frauen gibt es nicht oder sind per se verdächtig. Hure oder Heilige, wohin muss man Asta Maris einordnen, die Schauspielerin oder Pianistin ist oder keins von beiden? Kann sie Franz erlösen aus seinem nichtigen Dasein? Der sich in seiner Fantasie, die das Beste ist, was bei ihm funktioniert, bereits mit ihr verheiratet sieht, inmitten einer großen Kinderschar. Natürlich nicht, denn auch sie steht nur für ein Bild, für die Erlösung durch außen statt von innen her. 

Wenn man Figuren sucht, mit denen man verschmelzen kann, ist man nicht der richtige Leser für Allard Schröders Hydrografen. Wenn man jedoch den Schlagabtausch der Klassen genießen kann, die Aufdeckung der Verlogenheit und Sinnentleertheit der „edelsten Klasse der Menschheit“ und sich herrlich über die groteske Herablassung Franzens gegenüber dem einzigen Lebenstüchtigen an Bord, aus seiner Sicht, des Plebejers, amüsieren kann, dann ist der Hydrograf ein einmaliges Buch mit großer Erzählkraft.

Hinzu kommt die dichte Atmosphäre der Schiffsreise und des Meeres und der fernen Gestade.

Fazit: Großartig!

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Mare, 2016

 

Kommentare

Eva Mareike Jansen bemerkte am 04. Oktober 2016 um 22:05

Danke, liebe Wanda. Bisher hab ich noch überlegt, war aber noch zu keinem Schluss gekommen: Jetzt, nach der Lektüre Deiner Rezension ist klar, dass ich den Hydrographen lesen möchte! Alles Gute, Deine Mareike

 

 

katzenminze kommentierte am 08. Oktober 2016 um 19:36

Sehr schön! Das Büchlein steht schon auf meiner Wunschliste. Habe mich allein schon in den Titel verliebt. Nach dem Lob von dir freue ich mich unso mehr drauf! ;)