Rezension

Großartiger Spannungs- und Familienroman

Die Vergessenen - Ellen Sandberg

Die Vergessenen
von Ellen Sandberg

Bewertet mit 5 Sternen

Toller und sehr spannender Roman über zwei Familien mit NS-Vergangenheit, über die Publikmachung eines Verbrechens und über Gerechtigkeit.

Halbgrieche Manolis Lefteris ist nicht nur Besitzer eines Autohauses, er ist auch ein Mann für besondere Fälle, die er diskret und zuverlässig für seinen Auftraggeber löst. Seinen neuen Auftrag geht er zunächst ähnlich emotionslos an: Er soll Dokumente, die im Besitz einer alten Dame sind, beschaffen und seinem Auftraggeber aushändigen. Der Auftrag erweist sich als komplizierter als gedacht, die Dokumente sind nicht aufzufinden, derjenige, dem er sie abnehmen soll, hat sie nicht und wird wenig später tot aufgefunden. Also hängt sich Manolis an die Nichte der alten Dame, Vera Mändler, einer Journalistin. Vera hat die Patientenverfügung ihrer Tante und ist außerdem die Cousine des Dokumentenüberbringers, des chronisch klammen Chris, der sie und ihre Tante immer wieder um Geld angepumpt hat. Ihr kommen bald ein paar Dinge spanisch vor und so beginnt sie auf eigene Faust zu recherchieren. Nach und nach merken beide, was für einer Ungeheuerlichkeit sie da auf der Spur sind, und die Ereignisse beginnen sich zu überschlagen…

Ein großartiger und spannender Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, von der Autorin anspruchsvoll, aber dennoch sehr flüssig und eingängig erzählt. Die zwei Hauptfiguren Manolis und Vera bilden die zwei Haupterzählstränge, in Einschüben wird jedoch sehr geschickt die Sichtweise anderer Personen beleuchtet und so sowohl die geschichtlichen Ereignisse erzählt als auch die gegenwärtigen vorangetrieben. Nebenfiguren gibt es eigentlich nicht, ein jeder trägt etwas Wesentliches zur Geschichte bei. Besonders die Einschübe von Veras Tante Kathrin beleuchten die historischen Geschehnisse und geben darüber hinaus sehr tiefe Einblicke in das Seelenleben eines Zeitgenossen während der Nazi-Zeit. Nach und nach eröffnet sich dem Leser das ganze Ausmaß der skandalösen Machenschaften, die freilich damals sanktioniert waren und erst in unserer Zeit geahndet und bestraft werden.

Die Charaktere sind durchweg vielschichtig, oftmals in sich zwiegespalten, reflektierend über ihr Dasein und mitunter hadernd mit ihrem Schicksal. Alles ist jedoch schlüssig und für den Leser sehr gut nachvollziehbar, und manch einer erweist sich als überraschend stark. Sowohl Manolis als auch Vera tragen familiäre Altlasten mit sich herum und hinterfragen ihr Leben und ihren Beruf, hervorgerufen durch die Ereignisse, in die sie – eher unverhofft - hineingeraten. Beide hadern mit der Vergangenheit ihrer Familie in der Nazi-Zeit, Manolis schleppt ein psychisches Trauma mit sich herum, Vera fragt sich besorgt nach der Rolle ihrer Tante bei den abscheulichen Geschehnissen. Beide machen im Laufe der Ereignisse des Buches eine Veränderung durch, Manolis gibt seine Neutralität und Gleichgültigkeit gegenüber der wahren Beweggründe seiner Auftraggeber auf, Vera wirft ihr starkes Sicherheitsbedürfnis über Bord und emanzipiert sich sowohl privat als auch beruflich. Beiden geht es schlussendlich um Gerechtigkeit, nicht jedoch im juristischen, sondern im moralischen Sinne.

Das Buch ist sehr emotional, es macht betroffen und wütend und es fordert in dem Maße, wie sich die Figuren verausgaben, dies auch vom Leser, der mit jeder Faser mit lebt. Die Einblicke besonders in Manolis‘ Seelenleben gehen unter die Haut und er polarisiert als Charakter durch seine Vergangenheit, seine psychische Verletzlichkeit und seinen „Job“ sehr. Trotzdem macht die Autorin seine Aktionen plausibel und ihn somit als Persönlichkeit stark und tiefsinnig. Das Ende ist denn auch zumindest versöhnlich.

Fazit: Ein must-read! Das Buch bietet alle Facetten eines gut recherchierten, an historischen Fakten orientierten Spannungsromans, der zwei Zeitebenen plausibel verknüpft, die Spannung stetig steigert und auch psychologische Abgründe nicht zu überladen, aber doch überzeugend darstellt. Das „zweite literarische Standbein“, wie die durch Krimis unter anderem Namen bekannt gewordene Autorin diesen Ausflug in ein komplett anderes Genre selbst nennt, ist wahrhaft gelungen! Dass Ellen Sandberg alias Inge Löhnig schreiben kann, hat sie nun hinlänglich bewiesen, aber einen historisch fundierten, spannenden Familienroman zu schreiben erfordert meines Erachtens eine völlig andere Herangehensweise und einen deutlich höheren Rechercheaufwand. Dass hier ihr Herzblut drinsteckt, merkt man mit jeder Zeile. Wenn es auch schwierig werden dürfte, dies so zu wiederholen oder gar zu toppen, so würde ich als Leser nach diesem Ende doch hoffen, wieder einmal etwas über Manolis und Vera lesen zu dürfen.