Rezension

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Gustavs Sonate, denn Liebe kennt viele Töne

Und damit fing es an - Rose Tremain

Und damit fing es an
von Rose Tremain

"Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich das nicht aussprechen lässt, ich antwortete denn: Weil er er war; weil ich ich war.“

Dieses berührende Montaigne Zitat über die Irrationalität der Liebe, die nicht den Regeln der Vernunft, der Ökonomie gehorcht, stellt Rose Tremain ihrem wehmütigen Liebesroman voran.

Gustavs Sonate, so der Originaltitel, erzählt von der besonderen Verbindung von Gustav und Anton, zwei Schweizer Knaben, die sich seit Kindertagen ein Leben lang Anker sind.

Der erste Teil des Romans ist in einem wunderbarem, fast altmodisch naturalistischen Stil geschrieben, voll von detailliebenden, lebendigen Beschreibungen kleinster Begebenheiten, ein Seidenraupen Projekt in der Schule, ein verlassenes Lungensanatorium in den Bergen bei Davos. Er zieht den Leser durch kunstvoll gesetzte Leerzeichen, offene Fragen, wie es zu dem kam, wie es nun ist, hinein in das Leben des kleinen Gustav Perle.

Jener liebenswürdige Held des Romans, dessen Leben vor dem Leser ausgebreitet wird, lebt mit seine Mutter im zentralschweizerischen Städtchen Matzlingen. Emelie hat einst ihr Heimatdorf, und noch viel mehr die ungeliebte Mutter, verlassen, um in dem kleinen Ort ein neues, besseres Leben zu beginnen. Mit dem Mut einer, die nur gewinnen kann, verführt sie den stellvertretenden Polizeidirektor, wird zu seiner ehrbaren Ehefrau, Hausfrau ihres Puppenheimes und zukünftigen Mutter seines Sohnes. Doch die Liebe reicht nicht. Verwitwet, vom Leben enttäuscht, verbittert, ist sie Gustav eine kaltherzige Erzieherin, die das Kind zwar nährt, der es aber nicht gelingen will, ihn in die schützende Decke der Mutterliebe zu hüllen, die, einer Hornhaut gleich, zukünftige Verletzungen des Lebens ertragbar macht.

Gustav nun, kämpft wie ein Ertrinkender um diese Liebe. Versucht ihr zu gefallen, wo sie sich nicht darum bemüht, übernimmt Verantwortung, wo sie sich den Umständen ergibt, ist pflichtbewusst und gewissenhaft, bis zur Selbstaufgabe. Ein Kind noch, doch ohne Chance auf eine unbeschwerte Kindheit.

Zu seiner Rettung wird der kleine, sensible Anton, der aus dem großen Zürich neu an seine Schule kommt. Das kleine Wunderkind am Piano, der verwöhnte Schatz und ganze Stolz, eines jüdischen Bankier Ehepaares wird zu seinem Freund, den er nun mit der Fülle seiner unerwiderte Kinderliebe überschütten kann. Dessen Familie ihm Momente des Kindseins ermöglicht, Schlittschuh laufen, Konzertbesuche, Sommerfrische in den Bergen, doch auch hier gibt es diese nicht umsonst, muss Gustav geben. Seine Empathie, sein besonderes Einfühlungsvermögen in den sensiblen, nervösen Anton, dessen große Pianisten Karriere an seinem unabstellbaren Lampenfieber zu scheitern droht.

Über die zwei Jungen zu lesen, lässt einen glauben Tremain hätte mit ihrem Roman Alice Miller 37 Jahre nach deren Welterfolg mit „Das Drama des begabten Kindes“  Referenz erweisen wollen. Die Schweizer Kinderpsychologin thematisiert in ihrem Werk den Einfluss narzisstischer Eltern auf ihre Kinder.

Nach Walker haben Kinder ein natürliches Bedürfnis nach Zuneigung und Akzeptanz ihrer ureigenen Persönlichkeit, deren Erwiderung zur Bildung eines gesunden Selbstgefühls und Selbstbewusstseins unerlässlich ist. Im Idealfall wirken die Eltern als Spiegel, die dem Kind ermöglichen auch Gefühle wie Zorn, Wut und Traurigkeit ohne Verlustangst auszuleben. Die Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle auszuleben, fördert im späteren Leben ein echtes soziales Verhalten. Kinder spüren die bewussten oder unbewussten Wünsche der Eltern und passen sich ihnen an, um sich ihre Aufmerksamkeit und Liebe zu sichern. Sie beginnen eigene Bedürfnisse zu leugnen. Die äußeren Anforderungen werden verinnerlicht und leben im ständigen Wettstreit in  ihnen fort. Dies führt zu einem für narzisstische Persönlichkeiten typischen ambivalenten Verhalten, einem steten Schwanken zwischen Depression und Größenwahn. Begabte Kinder sind laut Walker eher anfällig für diese narzisstische Störung als „normale Kinder“.

Im Hauptteil des Buches, einer Sonate gleich, wechselt die Autorin in der Erzählstimme zur Gegenwart, obwohl sie über die in der Vergangenheit liegenden, erotischen Verwicklungen Gustavs Vater berichtet. Diese alle Regeln außer Kraft setzende, ihn verschlingende Leidenschaft führt zwar zur Zeugung Gustavs, aber auch zur endgültigen emotionalen Abkehr von dessen Mutter. Diese so pflichtbewusste, anständige und vernünftige Staatsdiener öffnet der Büchse der Pandora gleich sein Herz und verliert sich in der Liebe.

Im dritten Teil, wieder in der Vergangenheit erzählt, hat Gustav sich einen Traum erfüllt. Er ist stolzer Besitzer eines ausgezeichneten kleinen Boutique Hotels in seinem Heimatort. Das Buhlen um die Liebe seiner Mutter hat er zwar noch nicht aufgegeben, doch hilft ihm sein väterliches Umsorgen seiner Hotelgäste und die anhaltende Verbundenheit mit Anton den Schmerz der stetigen mütterlichen Zurückweisung zu ertragen.

Doch als seinem Freund, für den es, ob seiner Auftrittsangst nur für ein unglamouröses Leben als Provinzklavierlehrer gereicht hat, nun noch spät die lebenslang erhoffte Anerkennung als Pianist, wenn auch nur von Schallplattenaufnahmen, zuteil werden soll, dafür die Kleinstadt verlässt, scheint dies Gustav auf sich selbst zurückzuwerfen. Er beginnt, die ungefragten Fragen seines Lebens zu stellen, die losen Fäden zu verknoten. Er begibt sich auf Spurensuche nach seinem Vater, dessen Charakter seine Mutter gerne mit der Schweiz verglich. Er findet einen Mann voller Leidenschaft, der aus Mitgefühl sich über pures Pflichtbewusstsein hinweggesetzt hat, der viel riskiert hat und verlor, und der mit aller Inbrunst liebte und zurück geliebt wurde.

Gustav erkennt, dass er sein Leben ändern muss. Er ist ein Mann in den 50ern, ohne gelebte Sexualität, selbstgenügsam bis zur Selbstaufgabe, dessen größte Selbstbestätigung im Umsorgen Anderer besteht, eigentlich ist er die Schweiz.

Der nun folgende, versöhnliche Abschluss, alles findet sich und Liebe überwindet alles, auch den größten Schmerz, jedes Kindheitstrauma, wirkt auf mich einerseits zu positivistisch und andererseits haftet auch ihm der Hautgout des „Gustav gibt“ an.

Doch muss Liebe den wirklich eine win-win-Situation sein? Ist Geben nicht Seliger denn nehmen? Gilt das auch, wenn jemand dies nur tut, weil seine Erziehung ihm keine Wahl lässt? Er immer und immer wieder die Situation der unerwiderten Mutterliebe nachstellt?

Weil der Mollton des Romans, auf wunderbare Weise das Konzept der „Saudade“ wiedergibt, diese tiefe Traurigkeit,den Schmerz etwas Geliebtes verloren zu haben und das unterdrückte Wissen, das diese Sehnsucht unstillbar ist, lässt er den Leser lange nicht los.

Doch wer sagt, dass diese Sehnsucht nicht auch Kraft und Motor sein kann? Oder etwas poetischer mit den Worten des Philosophen und Autors Albert Camus:

„Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“